Ellorans Traum
an mir herab, an dem bunten, lächerlichen Flickenkleid des Narren, das ich am Leibe trug und fragte mich benommen, was diesen Traum von den anderen unterschied, in denen ich hier auf dieser Ebene gestanden hatte. Ich hob meine Hände, drehte den Kopf und wußte es: Dieses Mal konnte ich mich bewegen! Wo war der Berg, den ich sonst vor Augen gehabt hatte? Ich drehte mich um meine eigene Achse, aber er war nirgendwo zu sehen. Dafür gab es nur eine Erklärung: Ich mußte auf seinem Gipfel stehen. Vorsichtig ging ich einige Schritte nach vorne und näherte mich einer hohen, grauen Mauer, die aus dem Dunst auftauchte. Dicht hinter mir lachte jemand, und ich fuhr herum. Meine Traumschwester stand neben mir und nahm mich bei der Hand. Sie sah mir auffordernd in die Augen, und ich bemerkte ohne Überraschung, daß Leonies Vogelaugen mich aus dem vertrauten, blassen Antlitz anblickten. Sie drückte meine Hand und legte dann die andere auf meine Lippen.
»Jetzt«, hauchte sie tonlos. »Jetzt, Elloran!« Ich holte schluchzend Luft und flüsterte: »Aber ich k-kann doch nicht ...« Über mir jubilierte ein Vogel, und die gelben Augen vor mir blitzten vergnügt. Ich schrie auf und erwachte.
Leonie hielt mich im Arm. Irgendwo im Raum sang süß und schmelzend ein Vogel. Ich fühlte Tränen über mein Gesicht laufen, und Leonie wischte sie behutsam fort. »Hörst du die Drossel, Elloran?« fragte sie. Ich nickte stumm; zu ängstlich, meine Stimme zu versuchen und dann womöglich feststellen zu müssen, daß sie mir immer noch ihren Dienst versagte. Leonies Gesicht näherte sich, und sie küßte mich auf den Mund. Ich konnte all die unzähligen Fältchen sehen, die sich nun vergnügt kräuselten. »Sag etwas, Elloran. Sei ein mutiger Junge und sag: ›Guten Morgen, Leonie.‹«
Ich räusperte mich und flüsterte: »G-guten Morgen, Leonie.« Sie warf den Kopf zurück und lachte.
»Das war die mutige Begrüßung einer kleinen Maus! Noch einmal, Elloran!«
Ich holte zittrig Luft und schmetterte: »Guten M-Morgen, Leonie!«
Ihr Gesicht verschattete sich. »Hast du auch früher schon gestottert, Elloran?« fragte sie scharf. Ich mußte einen Augenblick lang überlegen; es war so unendlich lange her, daß ich hatte sprechen können. Endlich schüttelte ich wie selbstverständlich den Kopf und mußte dann über mich selber lachen.
»N-nein«, brachte ich mühsam heraus. »Es l-liegt nicht an dir. Ich stottere, seit ich den Schlag auf den K-kopf bekommen h-habe.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Dann kann ich vielleicht etwas dagegen tun. Aber nicht mehr heute, Elloran, ich bin erschöpft. Nein«, sie hob in einer herrischen Geste die linke Hand. Das weiße Gewand rutschte von ihrem schlanken Arm und enthüllte einen breiten silbernen Armreif an ihrem Oberarm, der mir bekannt vorkam. »Für heute keine Fragen mehr, Elloran. Wir werden noch reichlich Gelegenheit haben, miteinander zu reden. Geh jetzt.«
Ich stand auf und stotterte einen Dank. Sie entgegnete lächelnd: »Danke mir nicht, Elloran. Du mußt übrigens noch deine Freundin befreien, sie hat ihre Aufgabe jetzt erfüllt.« Ich öffnete das Bauer und lockte die Drossel auf meine Hand.
»D-danke auch dir«, murmelte ich und legte kurz meine Wange an ihr klopfendes Herz. Dann trat ich auf den Altan und warf den Vogel in die Luft. Mit einem Jubelschrei, der aus meinem überfließenden Inneren kam, sah ich die Drossel sich aufschwingen und davonfliegen. Mir war, als hätte ein Gewicht sich von meinem Herzen gelöst. Ich war von meiner schrecklich quälenden Stummheit endlich erlöst! Wieder flossen meine Tränen, aber es waren Tränen der Freude.
Ich trat ins Zimmer zurück und fand es leer. Ich rief einen Gruß und verließ den Raum mit tausendmal leichterem Herzen, als ich ihn betreten hatte.
Karas saß an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, und las mein Protokoll vom Vortag. Er blickte kurz auf und lächelte mich an, dann setzte er seine Lektüre fort.
Ich hockte mich auf den kleinen Fußschemel neben dem Kamin und benutzte einige der Seiten der Kronratssitzungen dazu, mit ihnen das ausgegangene Feuer wieder zu entzünden. Dann nahm ich mir meinen Lesestoff vom Vorabend vor. Lange Zeit war nichts zu hören außer dem Rascheln von Papier und einem gelegentlichen Räuspern des Kammerherrn.
Ich legte das letzte Aktenbündel sorgsam zusammen, knotete die Schnur wieder darum und fragte beiläufig: »R-Rhûn und Rhan habe ich d-durch, domu Karas. Was soll
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