Ellorans Traum
ich mich ein wenig in das Tagesgeschäft einarbeitete, und das bedeutete für mich, daß ich einiges an Wissenslücken aufzufüllen hatte. Nur gut, daß mir Bibliothek und Archiv frei zugänglich waren, der Kammerherr hatte mir den Schlüssel für alle diese Räume gegeben.
Als ich die Kerzen löschen und mich zu Bett begeben wollte, fiel mir ein, daß ich noch immer den Schmuck des Kammerherrn mit mir herumtrug. Ich leerte hastig meine Tasche aus und verstaute die Ringe in dem Holzkästchen. Karas bewies erstaunlichen Leichtsinn, diese Kostbarkeiten so offen in seinem unverschlossenen Schreibtisch zu verwahren, dachte ich unbehaglich.
Es war spät geworden, und ich war froh, mich aus meiner Jacke schälen und auf meinem Bett ausstrecken zu können. Jetzt hatte ich endlich Gelegenheit, über die seltsamen Vorkommnisse bei Leonie nachzudenken. Worum mochte es sich bei dem geheimnisvollen Spiel handeln, und was hatte ich damit zu tun? Und was hatte Karas' Ausbruch zu bedeuten? Daß er sich der Krone entledigen wollte? Plante dieser getreue, altgediente Beamte vielleicht einen Staatsstreich?
Es klopfte, und ich schwang die Beine vom Bett. Ich tappte zur Tür und öffnete sie mit fragender Miene. Mikel, der Diener des Kammerherrn, stand vor mir und sagte knapp: »Kammerherr Karas läßt anfragen, ob du auf einen Schlummertrunk bei ihm vorbeikommen möchtest. Es sei dir aber freigestellt, in deinem Quartier zu bleiben, wenn es dir gerade nicht genehm sein sollte.« Seine Miene zeigte nur zu deutlich, was er davon hielt. Wenn ich mich weigerte, würde er mich wahrscheinlich bewußtlos schlagen und am Kragen zu seinem Herrn schleifen.
Ich bedeutete ihm, ich käme unverzüglich, und kleidete mich seufzend wieder an. Wie hatte Karas gesagt? Ich würde es noch bereuen, den Launen eines alten Mannes ausgesetzt zu sein? Anscheinend fing ich gerade damit an.
In Karas' Quartier war es dämmrig, und im Kamin brannte ein riesiges Feuer. Die Fenster waren geschlossen. Es herrschte eine unerträgliche Hitze in dem stickigen kleinen Raum. Der Kammerherr saß in seinem schäbigen Schlafrock im Sessel, das lahme Bein hochgelegt, einige Kissen im Rücken und einen halbgeleerten Becher Rotwein in der Hand. Seinem geröteten Gesicht und dem verschwommenen Blick seiner Augen nach zu urteilen, hatte er sich bereits ein ordentliches Quantum davon zu Gemüte geführt. Ich setzte mich ihm gegenüber und nahm den angebotenen Wein mit einem dankenden Nicken an. Karas schwieg und trank.
»Diese verdammten Narren«, bemerkte er nach einiger Zeit mit schwerer Zunge, dann verstummte er wieder. Ich schloß daraus, daß die Sitzung mit dem Kronrat nicht allzu erfreulich verlaufen sein konnte.
In den nächsten beiden Stunden durfte ich zusehen, wie der verdiente Kammerherr der Krone sich bis zur völligen Besinnungslosigkeit betrank. Schließlich hing er zusammengesunken im Sessel, schnaufend wie ein Walroß und den leeren Becher immer noch in der schlaffen Hand. Ich stand peinlich berührt auf und wandte mich zum Gehen. In der Tür blickte ich noch einmal zurück, und mein Gewissen regte sich. Wenn Karas die Nacht in dieser Haltung verbringen mußte, würde er morgen sicherlich vor Schmerzen schreien. Ich überwand meinen Widerwillen und nahm ihm den Becher aus der Hand. Dann beugte ich mich über ihn, packte ihn unter den Armen und zerrte ihn hinüber in das andere Zimmer, wuchtete ihn aufs Bett und schälte ihn aus seinem Schlafrock. Er bewegte sich schwach und murmelte etwas völlig Unverständliches. Ich zog die weichen Pantoffeln von seinen Füßen und knöpfte die Hose auf. Sie von seinen Beinen herunterzubekommen erwies sich als fast unmöglich, aber schließlich schaffte ich es doch.
Dabei konnte ich zum ersten Mal einen Blick auf das lahme Bein des Kammerherrn werfen und schrak zurück. Ich war gedankenlos davon ausgegangen, er hätte sein Hinken einem Geburtsfehler zuzuschreiben, so wie der lahme Ferran, der älteste Stallknecht auf Salvok. Aber das gräßlich verkrüppelte, von altem Narbengewebe entstellte Bein erzählte eine andere, weit grausamere Geschichte. Mehr noch, die Narben schienen sich über die gesamte linke Körperhälfte bis hinauf zur Brust zu ziehen. Was für ein Unfall hatte bloß solch schwere Verletzungen verursacht? Es schien mir ein Wunder, daß ein Mensch so etwas überlebt haben konnte.
Nachdenklich deckte ich den alten Mann zu und blickte noch einmal in sein schlaffes, fleischiges Gesicht. Er hatte die
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