Ellorans Traum
geröteten Augen einen Spalt weit geöffnet und schien mich anzusehen. Ich legte mit plötzlichem Mitleid eine Hand auf seine Wange und strich flüchtig darüber, ehe ich sie verlegen zurückzog. Er schloß ohne eine Regung die Augen, und ich verließ erleichtert sein Quartier, um endlich zu meinem eigenen Bett zurückzukehren.
Ich muß gestehen, daß ich nicht schlecht überrascht war, den Kammerherrn am anderen Morgen hellwach und erstaunlich guter Laune am Frühstückstisch anzutreffen. Nur die geröteten Augen und die gedunsenen Säcke unter ihnen erinnerten an die vergangene Nacht. Karas begrüßte mich herzlich und erwähnte den Abend mit keiner Silbe. Wir frühstückten beide mit gutem Appetit, und Karas legte mir den Arbeitsplan des heutigen Tages dar.
»Du sollst dich doch wahrscheinlich auch wieder bei Leonie blicken lassen, oder?« Ich nickte, und er seufzte leise. »Gut, dann gehst du jetzt als erstes zu ihr. Du findest mich nachher im Archiv oder in meinem Arbeitszimmer. Und, Elloran«, ich sah ihn aufmerksam an, »trau ihr nicht.«
Das hat sie mir selbst auch schon geraten , dachte ich mißvergnügt. Vertraute hier bei Hofe überhaupt jemand irgendeinem anderen? Ich nickte wieder und machte mich auf den Weg, dieses Mal alleine.
Vor der altersdunklen Tür holte ich tief und aufgeregt Luft und klopfte dann an. »Komm nur herein, Elloran«, rief Leonies sanfte, dunkle Stimme. Ich trat ein, ohne überrascht zu sein, daß sie wußte, wer ihr Besucher war. An diese Art von verblüffenden Tricks hatte mich Julian seinerzeit schon gewöhnt.
Sie stand auf dem Altan vor ihrem Fenster und schien sich mit einer Nebelkrähe zu unterhalten. Endlich neigte sie grüßend den Kopf und trat zu mir ins Zimmer. Die Krähe schwang sich auf und flog in Richtung Süden.
»Sei gegrüßt, Elloran. Hast du schon nach deinem Vogel gesehen?« Sie führte mich zu dem Bauer, in dem die kleine, gesprenkelte Drossel saß. Sie sah mich aus glänzend schwarzen Augen an und öffnete einen Spalt weit den Schnabel. Aber kein Ton drang heraus. Leonie öffnete das Bauer und ließ die Drossel auf ihren Finger hüpfen. Sie strich ihr über den Kopf und forderte mich dann auf, den Vogel zu nehmen. Behutsam und ein wenig ängstlich nahm ich ihn Leonie ab und spürte das zarte Kratzen der Füße auf meinen Fingern.
Leonie wandte sich ab und holte wieder den Spiegel hervor. »Nun wollen wir einmal nachsehen«, sagte sie versonnen. »Irgendwo hier drinnen muß es einen Grund geben, warum deine Stimme sich verloren hat.« Sie neigte ihren schönen Kopf mit der Wolke weißer fedriger Locken über den Spiegel und versenkte ihren Blick hinein.
Ich hockte mich auf die Kante eines Sessels und ließ meine Blicke umherwandern. Dabei streichelte ich das weiche Gefieder des kleinen Vogels und spürte sein Herz schnell und kräftig in meiner Hand schlagen. Neben mir auf einem niedrigen Tisch erblickte ich ein fünfeckiges Spielbrett: silbergrau, von schwarzen, roten und blauen Linien durchzogen, auf denen verschiedene groteske kleine Figuren standen: Ein Wagen mit einem geflügelten Pferd, ein Reiter mit Bündeln von Schlangen anstelle von Armen, eine Figur mit einem Katzenkopf und gegabelten Messern in den winzigen Fäusten, ein Wesen mit nur einem Arm, aber zwei Köpfen auf seinen Schultern. Auf einer kreisrunden goldenen Markierung in der Mitte des Spielbrettes standen zwei weitere Figuren, die ich mir gerne noch näher angesehen hätte. Aber nun atmete Leonie tief ein und sagte befriedigt: »Ah, da!«
Mit ihren überlangen Fingern griff sie nach der Drossel und nahm sie mir ab. Sie senkte den Kopf und küßte das Tier zart auf den Kopf. Der Vogel breitete die Flügel aus und zirpte fast unhörbar. Leonie lächelte auf ihn hinunter und setzte ihn wieder ins Bauer zurück. Dann wandte sie sich zu mir um, daß ihre leichten, weiten Gewänder um ihre langen Glieder flatterten und legte mir ihre Hände ums Gesicht. Ihre riesigen, gelben Augen bohrten sich in meine. Ich starrte wie gebannt in ihre funkelnde Tiefe. Meine Lider flatterten und sanken herab. Ich spürte, wie starke, sehnige Arme mich umfingen und aufhoben und auf weiche Kissen legten.
»Schlaf ein wenig, Elloran«, flüsterte sie und strich über meine Stirn und meine Augen. »Schlaf und träume. Träume und werde heil ...«
Unversehens fand ich mich auf der grauen Ebene meiner Träume wieder. Ich war allein und konnte nicht wie sonst die Gegenwart der beiden Spieler spüren. Ich sah
Weitere Kostenlose Bücher