Ellorans Traum
dabei wehmütig an alte Freunde und machte keinen Hehl aus dem Groll meinem Vater gegenüber. Karas lauschte all dem mit Geduld und Freundlichkeit, trank dabei eher mäßig und beschloß den Abend nicht allzu spät.
In der folgenden Zeit deckte er mich unbarmherzig mit Arbeit ein. Er selbst gönnte sich ebenfalls keine Schonung. Es kam sogar vor, daß er die eine oder andere Mahlzeit ausfallen ließ. Wie ein Besessener las ich alles, was der Kammerherr für nötig, wichtig oder einfach nur interessant hielt. Mein gutes Gedächtnis war mir dabei eine unschätzbare Hilfe. Nur dadurch, daß ich jede Akte, jede Notiz, jeden Vertrag nur einmal lesen mußte, um ihn vollständig bis zum letzten Komma im Kopf zu haben, konnte ich das Pensum, das Karas mir aufbrummte, überhaupt erledigen. Abends fiel ich erschlagen auf mein Bett und schlief wie ein Stein. Im Stillen bewunderte ich die Kraft und die Energie, mit der ein so viel älterer, nicht allzu gesunder Mann nicht nur das gleiche Arbeitspensum, sondern sogar noch ein Mehrfaches davon bewältigte.
Obwohl er mich so unerbittlich antrieb, ergaben sich wunderbarerweise doch immer wieder freie Zeiten, in denen ich mich zu Leonie fortstehlen konnte. Ich wußte, daß Karas das mit einigem Unbehagen sah, aber dennoch ermöglichte er mir regelmäßig diese Besuche.
Leonie konnte an meinem Stottern nichts ändern, die Ursache entzog sich ihrer Magie. Ich war selbst erstaunt, wie leicht ich mich damit abfand; mir war alles gleich, solange ich nur dazu in der Lage war, mich anders als auf schriftlichem Wege zu verständigen.
Eines düsteren Nachmittages, an dem ein eisiger Schneeregen jeden Aufenthalt außerhalb der schützenden Burgmauern zur Qual machte, fragte ich Leonie nach dem seltsamen, fünfeckigen Spiel, das auf dem niedrigen Tischchen stand. Vor kurzem war eine neue Figur auf dem Brett erschienen, die sich schnell und zielstrebig auf das Zentrum zubewegte, und die anderen Figuren waren gemeinsam an der roten Linie entlang einige Zentimeter nach Süden gezogen, auf eine der blauen Linien zu. Nur die zwei in der Mitte standen noch immer unbewegt dort, wo ich sie das erste Mal gesehen hatte.
Ich griff nach der neuen Spielfigur und hob sie auf, um sie näher zu betrachten. Sie stellte eine schmale, hohe Gestalt dar, weder eindeutig männlich noch weiblich; mit einem wie aus Marmor gemeißelten Gesicht und haarlosem Schädel. Die Augen der Figur stellten blicklose Höhlen dar, in denen ganz tief unten ein unheimliches Feuer zu lodern schien. Ich bewunderte nicht zum ersten Mal das Können des unbekannten Künstlers, der diese kaum handgroßen Figuren mit einer solchen Liebe zum grotesken Detail geschaffen hatte.
Leonie sah mir schweigend und reglos zu. Erst, als ich sie bat, mir das Spiel zu erklären, bewegten sich ihre Hände und nahmen mir sanft das Figürchen aus den Fingern. Sie stellte es wieder an seinen Platz – seit gestern hatte es sich dem Zentrum um ein weiteres großes Stück genähert – und blickte lange versonnen auf das Spielbrett nieder.
Dann lächelte sie fast mutwillig und sagte fröhlich: »Ja, warum eigentlich nicht? Wenn du willst, bringe ich es dir bei.«
Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal anbieten. Die Regeln des Spiels schienen auf den ersten Blick nicht allzu schwierig zu sein; vor allem ging es darum, daß einer der Spieler, und zwar derjenige, der die ›Spitze‹ des fünfeckigen Brettes erwürfelt hatte, seine einzelne Figur unbeschadet über das ganze Spielfeld bis zur Heimatlinie bringen mußte, wobei ihm die Route, die er dabei einschlug, völlig freigestellt war. Hatte er die Basislinie erreicht, gab es zwei Möglichkeiten: Er konnte ehrenvoll kapitulieren, was zu einem Unentschieden führte; oder er entschied sich für den Kronenschluß: Er brachte seine Figur unbeschadet über die rote Herzlinie zurück zum Zentrum, zur sogenannten ›Burg‹ und hatte damit das Spiel gewonnen.
Der Gegenspieler führte die ›Jäger‹, das waren Figuren, die die Spielfigur des ersten nach bestimmten Regeln behindern, von seinem Weg abbringen oder gefangennehmen konnten. Er hatte sogar unter Umständen die Möglichkeit, die einzelne Figur zu ›töten‹ und damit das Spiel für sich zu entscheiden.
Kompliziert wurde diese einfache Struktur dadurch, daß der erste Spieler auf die Jäger seines Spielpartners in einem gewissen Rahmen einwirken durfte. Das hing unter anderem von dem Ergebnis aus dem Wurf eines oder zweier achtseitiger
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