Ellorans Traum
ist doch vollkommener Sch-Schwachsinn. Hier auf d-diesem Blatt steht ein Rezept für Augenentzündungen bei Pferden.« Ich blätterte weiter. »Das hier ist ein ziemlich schlechtes Liebesgedicht, und bei dem hier kenne ich noch n-nicht einmal die Schrift. Wem soll ich d-denn sowas verkaufen? Oder soll Ruud das für einen Geheimcode halten? Das klappt doch nie!«
Magramanir landete im Sturzflug auf meinem Knie und klappte mit dem Schnabel. »Junge, du bist anstrengend, weißt du das? Du siehst das, was du gerade vorgelesen hast. Für deine Augen ist es schließlich auch überhaupt nicht gedacht. Nikal wird darin an die Großherzogin adressierte Botschaften der T'jana erkennen, in der die Inseln für Überfälle auf Haven im nächsten Frühjahr um Unterstützung gebeten werden. Etwas, das Ruud sehr interessieren wird. Das ist es doch, worauf es ankommt, nicht wahr?«
Ich starrte mißtrauisch auf die Briefe in meinem Schoß. »Ja, wenn d-du es sagst ...«, murmelte ich wenig überzeugt.
»Ich sage es. Jetzt tu mir den Gefallen und stecke die Dinger weg, ich habe Angst, daß ich sie dir sonst noch aus dem Wasser fischen darf.«
Magramanir schwang sich auf und gesellte sich zu ihren neuen Freundinnen, die unterwegs waren, um ein einlaufendes Fischerboot zu plündern. Ich wickelte die Papiere ein und steckte sie seufzend in die Tasche meines Umhangs. In dieser Angelegenheit würde ich auf Julians Wort vertrauen müssen. Aber er würde mich schon nicht enttäuschen, das tat er schließlich nie.
Für den heutigen Tag hatte ich genügend frische Luft geschnappt und wollte wieder in mein warmes Bett zurück. Bei einem Straßenhändler kaufte ich noch eine Handvoll Krabben, die ich während des Gehens schälte und mir in den Mund warf. Erschöpft wie nach einem dreitägigen Ritt öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer. Auf meinem Bett lag Nikal und reinigte sich mit seinem schmalen Dolch die Nägel. Ich sah auf den ersten Blick, daß er mein Zimmer durchwühlt hatte; er hatte sich keinerlei Mühe gegeben, das zu verbergen. Bei meinem Anblick machte er auch keine Anstalten, sich zu erheben. Er hörte auf, an seinen Nägeln herumzukratzen, hielt aber den Dolch weiterhin wachsam in der Hand.
»Was tust du hier?« fragte ich mühsam beherrscht.
Er warf das Messer in die Luft und fing es wieder auf: dreimal, viermal, fünfmal. »Wo sind die Briefe?« erkundigte er sich schleppend. Seine Sprache klang verwaschen und undeutlich, und als ich ihn mir genauer ansah, bemerkte ich Anzeichen starker Trunkenheit in seinem Gesicht. Der Dolch wirbelte durch die Luft und sirrte dicht an meinem Ohr vorbei, um zitternd im Türrahmen steckenzubleiben. Ich riß ihn heraus und wog ihn vor Wut kochend in der Hand. Nikal lag da, voll wie ein Lampenfisch, und benutzte mich als Zielscheibe!
»Holla, vorsichtig, Söhnchen«, murmelte er träge. »Das Ding ist scharf, du könntest dich schneiden.«
Ich stieß einen ergrimmten Laut aus und rammte den Dolch dicht neben seiner schlaffen Hand in die Matratze. Ehe ich mich versah, war er aufgesprungen und hatte mich mit eisenhartem Griff an der Kehle gepackt. Er stieß mich gegen die Wand, daß ich Sterne sah und drückte mir die kalte Klinge gegen das Kinn.
»Leiste dir lieber nicht den Fehler, mich zu unterschätzen, Rotznase«, zischte er. Er drückte mir erbarmungslos die Luft ab, ohne sich um meine schwächliche Gegenwehr zu kümmern. Sein Gesicht mit den wahnsinnigen Augen war ganz nahe an meinem, und ich wußte, er würde mich kaltblütig töten, genauso beiläufig, wie ich eine Mücke erschlagen hätte. Ich begann, die Besinnung zu verlieren, aber genauso plötzlich, wie er mich gepackt hatte, ließ er mich los. Ich rutschte an der Wand zu Boden, hustend und nach Luft ringend.
»Wo hast du die Briefe?« Er kniete sich neben mich und streichelte sanft mit seinem Messer über mein Gesicht. Ich rieb meinen schmerzenden Hals und drehte den Kopf weg von seinem Dolch. Er packte mich brutal bei meinen Haaren und drehte mein Gesicht zu sich. Die Klinge bewegte sich sacht vor meinen Augen hin und her.
»Raus damit, Söhnchen. Ich würde dir ungern die hübsche Visage zerschneiden, also zwinge mich lieber nicht dazu.« Er zog die Schneide langsam über meine Wange, und ich spürte kitzelnd das Blut aus dem feinen Schnitt tröpfeln.
»Alles, was Narben hinterläßt, kostet doppelt, richtig?« flüsterte er höhnisch. »Mal sehen, wieviel Geld ich noch bei mir habe. Viel wollte ich eigentlich nicht
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