Ellorans Traum
denen seiner Mutter erstaunlich glichen – warum war mir das vorher nie aufgefallen? – fixierten mich mit einem unergründlichen Ausdruck. Ruud wandte sich zu Nikal, der ihn nicht aus den Augen ließ und sagte liebenswürdig: »Bester Freund, du hast zweimal versucht, mich umzubringen. Was treibt dich jetzt, hier einfach so hereinspaziert zu kommen – Lebensmüdigkeit? Oder verfolgst du noch etwas anderes? Ich bin äußerst interessiert, dazu eine Erklärung von dir zu hören.«
»Ich habe dir etwas zu verkaufen«, sagte Nikal rauh. »Der Junge hat Briefe, die dir einiges wert sein dürften. Dafür verlange ich, daß du deine Hunde zurückpfeifst.« Er warf mir einen schnellen Blick zu und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, Ruud die Briefe zu übergeben. Ich tat, was er wollte, und sah dann gebannt zu, wie der dunkelhaarige Mann die Schriftstücke sorgfältig prüfte. Ich begriff überhaupt nichts mehr. Was hatte diese ganze Briefgeschichte für einen Sinn?
Ruud ließ den letzten Brief sinken und faltete die Hände vor dem Mund. Er tippte gedankenverloren mit den Zeigefingern gegen seine Zähne. »Erkläre mir nur noch eines, Nikal«, sagte er freundlich. »Du verlangst, daß ich dich verschone, aber die Briefe besitzt der Junge? Das scheint mir ein merkwürdiger Handel, Freund.«
Nikal atmete zischend ein. Er bewegte seine Hand schneller, als ich es mit den Augen verfolgen konnte. Aber Ruud kam ihm zuvor. Er hob nachlässig seine Finger und beschrieb eine augenverwirrende Geste. Nikals Dolch flog weit an seinem Ziel vorbei und fiel klirrend hinter ihm auf den Boden. Nikal war aufgesprungen, das Gesicht schneeweiß und erstarrt.
Ruud schüttelte nachsichtig den Kopf und lächelte grimmig. »Nik, das war jetzt das dritte Mal. So langsam bekomme ich das Gefühl, du hast etwas gegen mich.« Er lehnte sich entspannt zurück und schloß die Augen. Ich bewunderte seine Kaltblütigkeit. »Du wirst Haven verlassen«, sagte er sanft. »Ich kann nicht zulassen, daß hier jemand herumläuft, der andauernd versucht, mich umzubringen. Wenn du künftig nur einen Fuß hierher setzt, bist du Fischfutter. Rechne nicht damit, daß ich dich ein weiteres Mal verschone. Ich mag vielleicht gutmütig sein, aber ich bin kein Schwachsinniger. Jetzt geh, ich habe mit deinem jungen Begleiter etwas Geschäftliches zu besprechen!«
Nikal starrte ihn haßerfüllt an. »Ich warte im Gelben Segel auf dich«, rief er mir rauh zu und verließ grußlos den Raum. Ruud sah ihm hinterher und legte einen Finger auf die Lippen. Ich schloß meinen Mund wieder und wartete. Er schien zu lauschen. Endlich entspannte er sich, ließ seine Hände sinken und lächelte mich an.
»Siehst du, Elloran, Ruud hat die Fälschungen geschluckt.« Ich war sprachlos. Er lachte leise und trat an das Feuer. »Möchtest du auch einen Tee?« Ohne meine Antwort abzuwarten, füllte er zwei Becher und drückte mir einen davon in die Hand. Wir tranken schweigend und sahen uns an.
»Was soll die b-blödsinnige Maskerade, Julian?« fragte ich erbost. »Wo ist dieser Ruud, und w-warum erkennt Nikal dich nicht, und ...«
»Halt, Neffe«, stöhnte Julian. »Das ist ja genau wie früher, du kannst einfach den Hals nicht vollkriegen. Laß mich doch bitte erst einmal eine Frage beantworten, ehe du die nächste stellst!« Ich holte tief Luft und nahm mein Glückskraut heraus. Er sah mir zu, wie ich eines der Stäbchen zum Glühen brachte und nickte befriedigt.
»Wo Ruud ist, wolltest du wissen«, begann er. Er zog eins seiner langen Beine unter sich und ließ das andere baumeln. Mir kamen fast die Tränen, als ich diese vertraute Haltung sah. »Ruud ist hier. Ich bin Ruud, zumindest hier in Haven.« Er sah mich gelassen an und erwartete meine unvermeidliche Frage.
»Weshalb ›Ruud‹?« entfuhr es mir prompt.
»Das ist der Name meines Großvaters. Du erinnerst dich, der Herr mit dem kleinen Sprachfehler, den du mit etwas Verzögerung geerbt hast«, in seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Lachfältchen. »Der Name erschien mir passend. Nächste Frage?«
Ich inhalierte den kühlen Rauch und dachte nach. Er hatte meine eigentliche Frage nicht beantwortet. »Was ist m-mit Nikal?«
»Was soll mit ihm sein? Er erinnert sich nicht an Julian, er kennt mich nur als Ruud; und er versucht, mich umzulegen. Ich hoffe sehr, du schaffst mir dieses Problem ein für alle Male vom Hals.«
Ich stöhnte. Er blinzelte erheitert. »J-Julian!« beharrte ich. »Du w-weichst mir aus. Warum
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