Ellorans Traum
an. Ich war zwar benebelt, aber das machte mir keine Sorgen. Ich wußte, daß ich Nikal überlegen war, und wahrscheinlich würde sich auch der geheimnisvolle Ruud als harmloser Pappwolf erweisen. Ich warf mir meinen Umhang um, versicherte mich, daß die Briefe in der Tasche steckten und spazierte zum Gelben Segel. Moll winkte, stellte mir mein Wasser hin und rief: »Ich habe dich vermißt – bist du mir untreu geworden, Elloran?« Ich lachte und drückte ihr einen Kuß auf die rote Wange.
»Keine Bange, Moll, dir würde ich niemals untreu werden. Ich war ein paar Tage krank.« Ich blickte auf den Becher und rümpfte die Nase. »Gib mir lieber Wein, Moll. Ich habe das Gefühl, ich vertrage heute kein Wasser.« Sie lachte laut auf und schob mir das Gewünschte hin. Ich trank und seufzte wohlig. Verdammnis, Jemaina hatte mir doch schließlich hin und wieder einen Becher Wein genehmigt!
Eine narbige Hand legte sich auf meinen Arm. Ich sah erschreckt auf und blickte in Nikals kaltes Gesicht. Er bestellte sich Schnaps und trank schweigend und hastig. Moll bediente ihn mit Widerwillen in ihrem gutmütigen Gesicht. Ich bemerkte, wie sie immer wieder von ihm auf mich blickte und den Kopf schüttelte.
»Laß uns gehen«, brach Nikal sein Schweigen, als unsere Becher leer waren. Ich warf ein paar Münzen auf die Theke und wies auf beide Becher. Moll strich das Geld ein und warf mir einen beunruhigten Blick zu. Ich lächelte und folgte dem hageren Rücken Nikals nach draußen.
Wir gingen stumm durch das Blaue Viertel, überquerten eine kleine Brücke und gelangten endlich vor ein dunkles, unbewohnt wirkendes Haus. Die Fenster der unteren Etage waren mit dichten Läden verschlossen. Kein Lichtschimmer drang heraus, der darauf gedeutet hätte, daß jemand sich dort drinnen aufhielt.
Nikal trat zur Tür und klopfte leise und rhythmisch mit den Fingern dagegen. Lange Zeit regte sich nichts, dann glitt die Tür einen kleinen Spalt auf. Nik drückte sie ganz auf und winkte mir, ihm zu folgen. Wir erreichten einen stockfinsteren Gang, durch den er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegte. Ich hielt mich an seiner Schulter fest und folgte ihm herzklopfend. Eine Tür knarrte, und ein schwacher Lichtschimmer fiel in meine Augen. Nikal schob mich durch die Tür und schloß sie hinter uns. Das Zimmer, in dem wir standen, war erstaunlich gemütlich eingerichtet; alles darin deutete auf einen Bewohner sowohl mit Geld als auch Geschmack. Es war nur schummrig durch eine kleine Öllampe beleuchtet, und im Kamin verglommen die Reste eines Feuers. Außer uns war niemand anwesend. Nikal stand reglos mitten im Raum und schien zu warten. An der Rückwand des Zimmers, die nahezu völlig im Dunkeln lag, regte sich etwas. Ich strengte meine Augen an und machte die schweren Falten eines Vorhangs aus. Ein Luftzug traf mein Gesicht. Nikal verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, in seinem Gesicht regte sich nichts. Mir wurde mit plötzlicher Klarheit bewußt, daß er starr war vor Angst. Mein Mund wurde trocken.
»Ah, Nikal«, schnurrte eine gedämpfte Stimme. Ich konnte nicht erkennen, woher sie kam. »Du wagst dich wirklich hierher? Ich bin zutiefst beeindruckt. Hast du dir schon überlegt, wie du sterben möchtest?« Nikal entgegnete nichts, aber ich sah einen Muskel an seiner Wange zucken. »Komm schon herein und bring deinen jungen Freund mit, Kommandant. Über deine Hinrichtung können wir später immer noch reden.« Die Stimme klang amüsiert.
Nikal trat auf den Vorhang zu und schlug ihn beiseite. Ich folgte ihm und sah mich staunend um. Dieses Zimmer war so nüchtern, wie der vordere Raum gemütlich gewesen war. Ein prasselndes Feuer loderte im Kamin, und ein von Büchern und Schriftstücken überquellender Tisch stand ihm gegenüber. Die große, schlaksige Gestalt, die mit dem Rücken zu uns vor dem Kamin stand und ihre bleichen Hände am Feuer wärmte, erschien mir seltsam vertraut. Der Mann trug einen dunklen Samtmantel, über dessen Kragen sich zottiges schwarzes Haar ringelte. Nikal blieb stehen und räusperte sich unbehaglich.
»Setzt euch«, befahl der Mann, der in Sturmhaven als Ruud bekannt war. Ich hielt die Luft an. Diese Stimme hatte ich zu oft gehört, um sie nicht zu erkennen. Nikal ließ sich steif in einem Lehnstuhl neben dem Tisch nieder, aber ich blieb erstarrt stehen und stierte den Mann an, der sich jetzt zu uns umwandte.
»Setz dich hin«, wiederholte er und lächelte schmal. Seine seegrünen Augen, die
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