Ellorans Traum
wahrhaftig eine klügere Hand als mich, wenn du den Thron besteigst!«
»Leonie«, flehte ich.
Sie lächelte, ihr Gesicht war voller Frieden. »Kind, ich bin eine alte Frau. Ich bin es müde, zu intrigieren und zu lügen. Ich wollte, ich könnte mich einfach so zur Ruhe setzen, doch das ist mir wohl nicht vergönnt. Aber du, du sollst eine Hand an deiner Seite haben, der du vertrauen kannst. Ich werde dafür sorgen, auch wenn es mich mein Leben kostet, das schwöre ich dir.«
Sie erhob sich und sah gelassen und würdevoll auf mich herunter. Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort ab und verließ das Zimmer.
Den Tag verbrachte ich grübelnd in meiner Fensternische. Meine Finger flochten gedankenverloren unzählige dünne Zöpfchen in meine Haare. Langsam, mühevoll verleibte ich mir Ellorans Erinnerungen ein. Wir waren lange voneinander getrennt gewesen, und obwohl ich während der ganzen Zeit immer an seiner Seite gewesen war, war doch sein Leben etwas, das ich nur als Zuschauerin miterlebt hatte. Nun trafen mich die Gedanken, Erinnerungen und Gefühle mit ihrer ganzen Wucht; ich erkannte all die Schuld, die er auf sich geladen hatte, und glaubte, es nicht überleben zu können.
Diesmal war es Jemaina, die kam, als hätte sie meine Verzweiflung gespürt – und mich nun in ihre Arme nahm.
»Sei nicht zu hart zu dir«, sagte sie behutsam. »Du hast Schuld auf dich geladen, und du hast vieles falsch gemacht, das ist richtig. Aber du darfst nicht vergessen, daß du schon seit Jahren kein ganzer, gesunder Mensch warst. Das mußt du jetzt erst lernen, Elloran. Und an dieser Stelle tragen wir alle einen sehr großen Teil deiner Schuld mit; ich, deine Großeltern, Leonie und ...« Sie stockte, und ihr sonst so gelassenes Gesicht verhärtete sich.
»Julian«, sagte ich mit Schaudern. Sie nickte.
»Ich habe es nicht rechtzeitig erkannt«, sagte sie. »Leonie vertraute ihm, und ich habe ihr vertraut. Aber ich hätte es begreifen müssen, als du dieses schwere Fieber bekamst. Ich hätte erkennen müssen, woher es stammte und wer dahinter steckte, aber ich war blind und taub für alle Zeichen.«
»W-warum hat er überhaupt versucht, mich zu töten?« fragte ich nachdenklich. Der Gedanke war eigenartig weit von mir entfernt, als beträfe er mich gar nicht persönlich. »Ich war ihm doch lebend viel nützlicher, er brauchte mich schließlich als sein W-Werkzeug.«
»Er hat nicht versucht, dich zu töten«, erwiderte sie. »Damals auf Salvok warst du zum Zeitpunkt des vermeintlichen Giftanschlags immer noch ein ganz gewöhnliches Mädchen; ich hatte nur deine Reife etwas hinausgezögert, weil deine Großmutter dich erst so spät wie irgend möglich zu sich holen wollte. Aber in diesem Winter war die Grenze erreicht, von der ab es dir ernstlich geschadet hätte. Ich habe also Veelora gebeten, dich baldmöglichst zu sich zu holen. Dann wurdest du krank und lagst auf den Tod. Ich war völlig ratlos und verzweifelt. In meiner Angst, dich zu verlieren, stimmte ich dem Vorschlag deiner Mutter zu, Julian um Hilfe zu bitten. Verstehst du: Er hat dich nicht vergiftet, um dich zu töten, sondern um etwas anderes zu versuchen. Er hat Ellemir eingeflüstert, er könne mit Hilfe seiner Magie einen Jungen aus dir machen. Oder wenigstens das, was ohnehin von dir gesagt wurde: einen T'svera. Ellemir stimmte zu: Alles war ihr lieber als das Mädchen, das sie geboren hatte und zu dem sie sich nie hatte bekennen dürfen. Aber er hat gepfuscht, dein sonst so genialer Onkel. Er glaubte wohl wirklich, er könne dieses überragende magische Werk schaffen. Der Junge, der dabei entstanden wäre, wäre ganz und gar seine Schöpfung gewesen. Er hätte dich nach seinem Belieben formen können, verstehst du? Du hättest keinen eigenen Willen mehr gehabt, du wärest nur noch sein – wie hast du es genannt? – sein Werkzeug gewesen. Zu unser aller Glück hat er hierbei versagt. Und doch war er weitaus erfolgreicher, als irgendein anderer an seiner Stelle gewesen wäre. Es ist ihm wahrhaftig gelungen, einen Teil von dir abzutrennen, und er muß geglaubt haben, daß die Teilung endgültig wäre, denn sonst hätte er dich gewiß schon damals getötet. Du warst eine zu große Gefahr für ihn, Elloran.«
Sie verstummte, und wir saßen schweigend da und blickten hinaus in die Dämmerung. Meine Augen waren schwer und müde, und ich ließ es zu, daß sie mich auskleidete wie ein Kind und zu Bett brachte. Ihre Lippen streiften meine Stirn, und sie
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