Ellorans Traum
Blick mit derselben Empfindung. Zu deutlich war mir noch das Schreckensbild seines Todes. Ich wandte voller Grauen meinen Blick auf meine Hände.
»Darf ich dich stören?« fragte er. Ich nickte, ohne aufzublicken. Sein stockender, unregelmäßiger Schritt kam auf mich zu, und er zog sich einen Stuhl in meine Nähe, in dem er sich schwerfällig niederließ. Er räusperte sich unbehaglich und schwieg. Ich hob meine Augen und sah ihn unsicher an.
»Großvater«, begann ich und stockte. Immer noch sah er mit diesem ungläubigen, fast ängstlichen Ausdruck auf mich. Ich beugte mich vor und griff nach seiner Hand. Er zuckte zurück, dann aber ließ er die Berührung zu, und ich drückte seine weiche Hand an meine Wange.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich. »Ich habe dir so viel Kummer bereitet, Großvater. Ich weiß nicht, ob du mir das je verzeihen kannst.«
Er antwortete nicht, aber seine Augen glänzten feucht. »Du bist mein – meine Enkelin, nicht wahr?« begann er nach einer Weile heiser. »Du bist nicht irgendeine Schreckensgestalt, die Julians bösem Kopf entsprungen ist, du bist aus Fleisch und Blut?« Seine Stimme war drängend und der Verzweiflung nah. Ich konnte ihm nicht antworten, wußte ich doch selbst kaum, wer ich eigentlich war; nur, daß sich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben alles richtig anfühlte, alles so zu sein schien, wie es sein sollte. Ich hielt seine Hand fest und sah nun endlich alle Anspannung aus seinem Gesicht weichen, als hätte sich meine Gewißheit auf ihn übertragen. Er erhob sich und nahm mich in den Arm. Veelora trat ein und umschlang uns beide mit ihren langen Armen.
»Ach, Kind, jetzt wird alles gut«, seufzte sie. »Liebes, ich bin dir einige Erklärungen schuldig, fürchte ich.«
»Das seid ihr, alle beide«, sagte ich ärgerlich. In Ermangelung eines Taschentuches zog ich meine Nase hoch und erntete einen tadelnden Blick und dann ein Auflachen meiner Großmutter. »Darf ich etwas essen, während wir miteinander reden?« bat ich. »Ich habe das Gefühl, seit Jahren nichts mehr zwischen die Zähne bekommen zu haben!« Veelora reichte mir das Tablett, und ich setzte mich damit zurück in die Fensternische.
Karas sah mich voller Kummer an. »Sie ist so schrecklich dünn«, klagte er.
Veelora lachte trocken auf. »Wenn es nach dir ginge, Liebster, würdest du das arme Mädchen genauso rund füttern, wie du das mit – ihm gemacht hast, gib es zu. Keine Sorge, wir päppeln sie dir schon auf, mein Herz.«
Er lachte, und beide sahen mich mit unverhohlener Zärtlichkeit an. Ich trank die heiße Schokolade und betrachtete meine Großeltern. Wie hatte ich Julian nur glauben können, daß diese beiden darauf aus gewesen sein sollten, mich zu töten?
Veelora unterbrach meine Gedanken, als hätte sie sie gelesen. »Julian hat von Anfang an hinter all dem gesteckt, was passiert ist«, erklärte sie verhalten. Ich hörte Trauer und kalten Zorn in ihrer beherrschten Stimme. »Aber ich will vorne beginnen, Kind. Du hättest nie als Junge aufgezogen werden dürfen, das war unser größter Fehler. Aber damals erschien es uns als das Beste. Du weißt, kaum ein Jahr vor deiner Geburt ist unsere Tochter ermordet worden, und wir wußten nicht, durch wen, nur, daß ein Magier hinter dem Anschlag gesteckt haben mußte. Karas war immer noch nicht wiederhergestellt, als du zur Welt kamst, und nicht einmal Leonie konnte uns sagen, ob er jemals wieder vollständig genesen würde. Du wurdest geboren und warst ein Mädchen mit den nötigen magischen Fähigkeiten, wie es Leonie vorhergesagt hatte. Wir wollten dich schützen, deshalb diese Lüge, du seist ein Junge.« Sie verstummte, in Erinnerungen versunken.
Ich schob das Tablett beiseite und runzelte die Stirn. »Aber ich kann doch nicht die Thronerbin sein«, sagte ich verwirrt. »Ist nicht in meiner Generation ein männlicher Erbe an der Reihe? Julian war jedenfalls dieser Meinung.«
Karas öffnete seine Augen und blickte mich aufmerksam an. »In diesem Punkt hat sich Julian geirrt. Nicht nur in diesem Punkt, aber hier am meisten. Wahrscheinlich wärest du schon lange tot, wenn er die Wahrheit geahnt hätte.« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nein, Elloran. Diese Generation der Krone – die, die mich ablösen soll – ist die weibliche Generation. Siehst du, das hat Julian falsch verstanden. Nicht die Generationen, die uns beide trennen, Großvater und Enkelin, zählen. Was zählt, ist die Nachfolge. Und in der ist eine Frau die
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