Ellorans Traum
begann ihn zu untersuchen.
Mein Vater kam heran und blieb neben uns stehen. »Wie steht es um ihn?« fragte er schroff.
Jemaina stand schwerfällig auf und schüttelte den Kopf. »Laß Männer mit einer Trage kommen, domu «, sagte sie beherrscht. »Ich möchte ihn bei mir unter Beobachtung halten.«
»Wie schlimm ist es?«
»Ich kann noch nichts sagen. In zwei oder drei Tagen ...«
»Wird er sterben?« fragte Morak kalt. Ich starrte Jemaina beschwörend an, als könnte das irgend etwas ändern. Sie hob die Schultern.
»Laß uns einige Tage abwarten«, wiederholte sie. »Möglicherweise ist sein Zustand weniger ernst, als es jetzt aussieht.«
Mein Vater biß hart die Kiefer aufeinander. »Wenn Reuven stirbt, wird Nikal hängen«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. Mir wurde schlecht vor Angst. Morak drehte sich brüsk um und befahl den Männern, eine Trage zu bringen. Sie hoben den Bewußtlosen unter Jemainas Anleitung behutsam darauf und trugen ihn aus dem Hof. Ich dachte fieberhaft nach. Falls ich Jemainas Miene richtig gedeutet hatte, hing Reuvens Leben an einer Spinnwebe. Das hieß, Nikal würde gehängt werden, und das unter Umständen schon sehr bald. Ich mußte herausfinden, wo sie ihn hingebracht hatten und dann zusehen, wie ich ihn befreien konnte.
Als erstes benachrichtigte ich Julian. Der fuhr sich durch die Haare, daß sie nach allen Seiten abstanden und begann, wild und ungeordnet allerlei Zeug in einen großen Reisesack zu werfen. Gleichzeitig erteilte er mir Dutzende überflüssiger Anweisungen. Als einige von Julians Besitztümern anfingen, durch den Raum zu springen und sich selbständig einzupacken, beschloß ich, daß es höchste Zeit sei, Nikals Aufenthaltsort herauszufinden.
Ich mußte nicht lange nach ihm suchen, denn meine erste Vermutung erwies sich als zutreffend. Ich kletterte die endlos lange Leiter zum Eingang des Burgfrieds hoch und sah Janik Einauge neben dem Angstloch Wache halten. Der Strick, der die einzige Möglichkeit bot, das Verlies zu betreten oder zu verlassen, hing aufgerollt an der Haspel. Der Soldat sah mich ausdruckslos an. Ein dicker Bluterguß zierte den Wangenknochen unter seinem einzigen Auge.
»Jan, ist Nikal unten?« fragte ich. Janik nickte nur. »Darf ich zu ihm?« bat ich, obwohl ich die Antwort kannte.
»Keiner darf zu ihm, Befehl deines Vaters.« Er zuckte mit den Achseln und grinste mich schief an. »Tut mir leid, Junge.«
Ich kletterte wieder hinab in den Hof. Jemaina war meine nächste Station. Sie stand am Tisch und mischte mit verbissener Miene eine ihrer stinkenden grünen Salben.
»Wie steht es mit Reuven?«
»Schlecht«, lautete ihre unverblümte Antwort. »Ich versuche, ihn so lange wie möglich am Leben zu halten. Aber sein Schädel ist eingedrückt wie eine Eierschale. Ich denke nicht, daß er es schafft. Geh zu deinem Vater.« Ich sah sie zweifelnd an. »Geh zu ihm und bitte ihn, Nikal zu begnadigen. Auf seinen Sohn wird er vielleicht hören.«
Ich fand Morak in den Stallungen. »Ich kann mir denken, was du willst. Spar dir den Atem«, lautete seine entmutigende Begrüßung. Ungefähr das hatte ich erwartet, aber ich versuchte es dennoch.
»Bitte, Vater, höre mich an. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten ...«
»Es hat keinen Zweck! Ich habe gesagt, Nikal wird hängen, wenn Reuven stirbt, und dabei bleibt es. Solche Vorfälle schaden der Disziplin, falls sie nicht hart geahndet werden; erst recht, wenn es sich bei dem Schuldigen um den Kommandanten der Wache handelt. Das müßte doch sogar in deinen Schädel gehen!«
Ich schluckte. Warum nur wurde ich das Gefühl nicht los, daß es noch einen anderen, verborgenen Grund für seine Unbeugsamkeit gab?
»Was geschieht mit Nik, wenn Reuven am Leben bleibt?«
»Er wird ausgepeitscht, als Strafe für seine Trunkenheit und die Prügelei auf dem Burggelände. Dann kann er sich aussuchen, ob er seinen Abschied nehmen oder als Gemeiner weiter in der Wache dienen will. Und das biete ich ihm nur an, weil er mir lange und treu gedient hat. Jeden anderen würde ich mit Schimpf und Schande davonjagen!«
Ich wußte, wann ich verloren hatte. Ich drehte mich auf dem Absatz um, aber Vaters barsche Stimme hielt mich zurück.
»Finde dich morgen zum zweiten Wachwechsel auf dem Hof ein. Alle männlichen Burgsassen müssen der Auspeitschung beiwohnen. Für morgen wollen wir dich ausnahmsweise einmal dazuzählen.«
Ich setzte rot vor Wut meinen Weg fort, ohne ihm zu antworten. Nikal bekam also
Weitere Kostenlose Bücher