Ellorans Traum
auf Nikal zu, aber die Soldaten versperrten ihr den Weg, einem Wink des Burgherren gehorchend. Jemaina drehte sich um und hob fragend und irritiert die Brauen.
»Geh, Heilerin«, sagte Morak. »Kümmere dich lieber um deinen anderen Patienten. Dieser hier verdient deine Fürsorge nicht.«
Jemaina spuckte angewidert aus und ging. Die Heilerin kannte den Burgherrn ebenso gut wie ich und wußte, daß Widerrede zwecklos war. Ich rannte hinter ihr her und holte sie am Eingang zum Kräutergarten ein. Sie schimpfte auf Olyssisch vor sich hin, was ein böses Zeichen war. Ich hatte die ruhige kleine Heilerin erst ein einziges Mal so aufgebracht erlebt: damals, als der Junge des Dorfschulzen von einem Pferd niedergetrampelt worden war und seine Mutter Jemaina nicht zu ihm lassen wollte, weil sie der schwarzen Hexe nicht traute.
»Dein Vater ist ein shi'hak Narr!« fluchte sie. Ich konnte ihr nicht widersprechen. Sie schimpfte weiter, bis wir ihre Kate betraten. Dort war sie wie ausgewechselt. Sie stellte ihr Bündel griffbereit neben die Tür und eilte in den Nebenraum. Ich wartete bang darauf, daß sie wiederkam. Sie blieb nicht lange drinnen, und ihr Gesicht war zutiefst besorgt, als sie zurückkam.
»Er lebt noch«, sagte sie knapp. »Aber er wird schwächer. Julian sollte sich besser reisefertig machen. Du sorge dafür, daß rechtzeitig Pferde bereitstehen. Bete zu deiner Göttin, daß Reuven noch ein paar Tage durchhält. Nikal wird in seinem jetzigen Zustand kaum reiten können.«
Ich mußte ihr schaudernd zustimmen. Das zerschlagene Bündel Mensch, das da zwischen seinen beiden Bewachern gehangen hatte, war sicher in den nächsten Tagen nicht reisefähig. Mir kam ein Gedanke, der mich meine Angst und Hilflosigkeit ein wenig vergessen ließ.
»Was hieltest du davon, wenn ich Nikals Wunden versorgte?«
Jemaina musterte mich skeptisch. »Wie willst du das anstellen?«
»Ich habe einen Plan.«
Ich machte einen Abstecher in die Küche und schwatzte der Ersten Köchin eine kleine, knusprig gebratene Ente und zwei Krüge Apfelwein ab. Mit diesen Delikatessen erklomm ich die Leiter zum Burgfried. Zum ersten Mal in diesen Tagen war mir das Glück hold: der Wächter des Burgverlieses war der schlaue Bort, ein älterer Wachsoldat, mit dem ich hin und wieder das Kugelspiel spielte. Bort war nicht besonders helle, und ich ließ ihn manchmal gewinnen, worüber er sich immer wie ein Kind freute. Sein rundes Gesicht strahlte wie ein Mond, als er mich erblickte und wie die Sonne, als ich meine Mitbringsel auspackte. Ich sah ihm geduldig bei seinem Schmaus zu. Bort durfte man nicht überfordern; Kauen und Denken zugleich wäre entschieden zuviel von ihm verlangt gewesen. Endlich rülpste er zufrieden, wischte sich das Fett vom Kinn und nahm einen tiefen Zug aus dem Weinkrug. Er grinste und bot mir von dem Apfelwein an. Ich lehnte dankend ab und sah ihn den Krug in wenigen Zügen leeren.
»Was hältst du von einer Partie Kugelspiel?« fragte ich ihn. »Wann hast du Freiwache?«
Er rülpste erneut und schüttelte bedauernd den Kopf. »Bin noch die ganze Nacht hier«, brummte er. »Cal hat mit mir den Dienst getauscht.«
»Na, dann verschieben wir es eben. Wer hat denn morgen hier Wache?«
»Einauge hat die erste Wache und Cal die zweite«, antwortete er. »Und zur Nachtwache bin ich wieder an der Reihe.« Das war es, was ich hatte wissen wollen. Ich verabschiedete mich von Bort und versprach ihm, später noch einmal mit einem Krug Wein vorbeizuschauen.
Jemaina gab mir ohne weitere Fragen alles an Verbänden und Arzneien, was ich benötigte. Ich wickelte die Sachen in eine warme Decke und holte dazu noch eine Wolltunika und eine dicke Jacke aus Nikals Quartier. In den Krug, den ich Bort mitbringen würde, mischte ich eine wohlbemessene Menge von Jemainas wirkungsvollstem Schlafmittel. So ausgerüstet, kletterte ich nach dem dritten Wachwechsel erneut hinauf in den Burgfried. Bort trank den mitgebrachten Wein gierig aus. Nicht lange danach entfiel der Krug seiner Hand, und das Kinn sank ihm auf die Brust. Er begann leise zu schnarchen. Ich wartete noch einen atemlosen Augenblick, um ganz sicher zu gehen, dann ließ ich den Strick an der Haspel ins Verlies hinunter, das ebenerdig hinter den meterdicken Mauern lag. Ich hatte am heutigen Tag die Leiter zum Eingang des Burgfriedes oft genug erklommen, um abschätzen zu können, was auf mich zukam. Aber dieselbe Strecke an einem Strick herabzuklettern, erwies sich als weitaus
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