Ellorans Traum
Jemaina hin und wieder Kranke unterbrachte, die ihre dauernde Aufmerksamkeit oder einfach nur ein wenig ungestörte Ruhe benötigten. Zu meinem Erstaunen war es Julian, der dort heraustrat. Ich hatte bislang in dem Glauben gelebt, daß Julian und Jemaina sich nicht besonders schätzten, zumindest gingen sie sich die meiste Zeit aus dem Weg.
Der Magier war tief in Gedanken. Jemaina schob ihm wortlos den Lehnstuhl zurecht und drückte ihm einen Becher mit Tee in die Hand. Ich saß unbehaglich zwischen den beiden und fragte mich, wer da eigentlich im Nebenzimmer lag, daß Jemaina es sogar für angebracht gehalten hatte, Julian hinzuzuziehen. Als es mir endlich dämmerte, fühlte ich mich ganz elend. Der Eindruck meines Traumes der letzten Nacht war so übermächtig gewesen, daß Nikal darüber völlig aus meinen Gedanken verschwunden war. Sein Traumbild, das so jung und fröhlich gewirkt hatte – vor seiner Verwandlung in etwas gesichtslos Bedrohliches – hatte mich seinen wahren Zustand vergessen lassen. Julians düsteres Schweigen und Jemainas bedenkliche Miene belehrten mich nun nur zu deutlich eines Schlechteren.
Der Magier stellte laut seinen Becher ab und legte beide Handflächen auf die dunkle Tischplatte. »Das beste wird sein, ich nehme ihn mit«, sagte er schroff.
»Er wird nicht mitgehen«, entgegnete Jemaina.
»Ich weiß keine andere Lösung. Du?«
Jemaina hob ernüchtert die Schultern. »Was denkst du über den fremden Gast, Julian?«
Der Magier schüttelte fast verächtlich den Kopf. »Es befinden sich zwei sehr unterschiedliche, widerstreitende Persönlichkeiten in seinem Geist; aber so seltsam das klingt: beide scheinen ganz und gar er selbst zu sein. Ich kann keine Zeichen eines fremden Einflusses erkennen. Er ist weder besessen noch verhext.«
Jemaina hob verzweifelt die Hände. »Er wird nicht mit dir gehen wollen. Und auch ich kann mir nicht vorstellen, wie deine Magierkollegen Rat wissen wollen, wo selbst du, der du ihn kennst, ratlos bist.« Julian biß sich auf die Lippen.
»Ich mag noch unerfahren sein«, gab er widerstrebend zu. »Aber wo meine Weisheit am Ende ist, endet das Wissen meiner Meisterin noch lange nicht. Die Oberste Maga wird ...«
»Du bist der Schüler der Obersten Maga?« unterbrach ich ihn unbedacht. Julian und Jemaina sahen mich beide erstaunt und ein wenig ungeduldig an.
Ich wurde rot und versuchte vergebens, mich unsichtbar zu machen, und Julian fuhr fort: »Sie wird wissen, was zu tun ist. Und falls sie es nicht weiß, wird sie keine Ruhe geben, bis sie es herausgefunden hat.« Seine sonst so kalten Augen blitzten lebhaft, und seine gleichmütige Stimme klang regelrecht fanatisch. So viel Leidenschaft hätte ich Julian mit seinem froschblütigen Wesen niemals zugetraut.
Jemaina gab auf. Sie erhob sich müde und murmelte: »Ich sehe noch mal nach ihm. Das Schlafmittel müßte eigentlich langsam seine Wirkung verlieren.« Die Tür schloß sich leise hinter ihr, und ich war allein mit dem Magier. Mit neuerwachtem Respekt musterte ich sein knochiges Gesicht. Er war der Schüler des Oberhauptes aller Zauberer und damit ein sicherer Anwärter auf ihre Nachfolge. Seine Miene war wie so oft undeutbar und von sanfter Melancholie.
»Ich brauche deine Hilfe, Elloran«, wandte er sich unvermittelt an mich. »Jemaina hat recht, Nikal wird nicht ohne weiteres bereit sein, mit mir zu kommen. Vielleicht kannst du ihn davon überzeugen, daß ihm keine andere Wahl bleibt.«
»Und wenn er nicht auf mich hört?« Julian antwortete nicht. »Was ist denn überhaupt mit ihm los? Leidet er an einer schweren Krankheit?«
»Der Kommandant wird irrsinnig«, sagte Jemaina, die in der Tür stand. Ich sah Julian an, zuversichtlich, daß er dieser ungeheuerlichen Aussage widersprechen werde. Aber er tat mir diesen Gefallen nicht.
»Jemaina, wir müssen ihn von jetzt ab ständig im Auge behalten. Wenn er gewalttätig wird ...«
»Julian!« schrie ich gequält auf. Jemaina blickte mich nur mitleidig an.
»Er kommt langsam wieder zu sich. Ich werde es wagen, ihm etwas gegen seine Kopfschmerzen zu geben. Alles andere liegt bei Denen-Die-Sind.«
Ich konnte es nicht fassen. Da saßen diese beiden Menschen, die ich liebte, und sprachen völlig unbeteiligt über Nikals vom Wahnsinn bedrohten Geist. Sie schienen es als unabwendbar gegeben hinzunehmen, daß er früher oder später zum tobenden Irren werden und wie ein toller Hund an die Kette gelegt werden mußte. Fast wunderte es mich, daß
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