Elric von Melnibone
aufgetragen, obgleich niemand vor dem Herrscher zu essen beginnen durfte.
Elric gab dem Kommandanten seiner Wache ein Zeichen. »Sind Prinzessin Cymoril und Lord Dyvim Tvar bereits im Turm eingetroffen?«
»Noch nicht, mein Lord.«
Cymoril kam selten zu spät und Dyvim Tvar überhaupt nie. Elric runzelte die Stirn. Vielleicht hatten sie mit dem unterhaltsamen Teil des heutigen Abends nichts im Sinn.
»Und was ist mit den Gefangenen?«
»Man hat gerade nach ihnen geschickt, mein Lord.«
Doktor Jest hob erwartungsvoll den Blick, sein dürrer Körper war gestrafft.
Plötzlich hörte Elric durch das Brausen der Gespräche einen Ton. Ein Ächzen, das von außen zu kommen schien, aus allen Richtungen zugleich. Er neigte den Kopf und lauschte.
Andere hörten es ebenfalls. Sie verstummten und horchten ebenfalls. Nach kurzer Zeit herrschte Schweigen im Saal, und das Stöhnen wurde leiser.
Urplötzlich platzten die Türen des Thronsaals auf, und auf der Schwelle stand Dyvim Tvar, keuchend und aus klaffenden Wunden blutend, die Kleidung zerfetzt. Hinter ihm wallte Nebel empor - wirbelnde Schwaden schwarzpurpurner und unangenehm blauer Tönungen, und das Stöhnen ging von diesem Nebel aus.
Elric sprang von seinem Thron auf und schlug dabei den Tisch zur Seite. Mit großen Schritten eilte er die Treppe hinab und auf seinen Freund zu. Der stöhnende Nebel begann in den Thronsaal einzudringen, als wolle er nach Dyvim Tvar greifen.
Elric nahm den Freund in die Arme. »Dyvim Tvar! Was soll dieses Zauberwerk?«
Dyvim Tvars Gesicht war entsetzt verzogen, und seine Lippen schienen erstarrt zu sein, bis er schließlich hervorbrachte:
»Es ist Yyrkoons Zauberwerk! Er beschwor den stöhnenden Nebel herauf, um seine Flucht zu decken. Ich versuchte ihm aus der Stadt zu folgen, aber der Nebel hüllte mich ein, und mir verwirrten sich die Sinne. Ich ging zu seinem Turm, um ihn und seinen Komplizen zu holen, aber das Zauberwerk war bereits getan.«
»Cymoril? Wo ist sie?«
»Er hat sie mitgenommen, Elric. Sie ist bei ihm. Ebenso Valharik und hundert Krieger, die ihm insgeheim treu geblieben waren.«
»Dann müssen wir ihn verfolgen! Wir fangen ihn schnell wieder ein!«
»Gegen den stöhnenden Nebel kommt man nicht an. Ah! Er kommt!«
Und tatsächlich - der Nebel begann sie einzukreisen. Elric versuchte die Erscheinung zu zerstreuen, indem er die Arme schwenkte, aber die Schwaden hatten sich allmählich um ihn verdichtet, und das gequälte Ächzen füllte seine Ohren, die scheußlichen Farben stachen ihm blendend in die Augen. Er versuchte hindurchzustürmen, doch die Wolke blieb bei ihm. Und jetzt vermeinte er inmitten des Stöhnens auch Worte zu vernehmen. »Elric ist schwach! Elric ist töricht! Elric muß sterben!«
»Aufhören!« rief er. Er stieß gegen eine andere Gestalt und brach in die Knie. Er begann über den Boden zu kriechen, verzweifelt bemüht, den Nebel mit den Augen zu durchdringen. Gesichter bildeten sich in der wirbelnden Masse, schreckliche Gesichter - solche Fratzen hatte er selbst in seinen schlimmsten Alpträumen nicht gesehen.
»Cymoril!« rief er. »Cymoril!«
Und eins der Gesichter wurde zu Cymorils Gesicht - eine Cymoril, die ihn spöttisch ansah und ihn verhöhnte und deren Gesicht langsam alterte, bis er eine Greisin vor sich sah und schließlich einen Schädel, an dem das Fleisch verrottete. Er schloß die Augen, aber das Bild blieb.
»Cymoril«, flüsterten die Stimmen. »Cymoril.«
Und je mehr Elrics Verzweiflung wuchs, desto schwächer wurde er. Er rief nach Dyvim Tvar, hörte aber nur ein spöttisches Echo dieses Namens, wie zuvor schon bei Cymoril. Er schloß die Augen, preßte die Lippen aufeinander und versuchte sich kriechend aus dem stöhnenden Nebel zu befreien. Stunden schienen zu vergehen, bis das Stöhnen zum Winseln und das Winseln zu schwachen Lautfetzen wurde, und er versuchte aufzustehen und öffnete die Augen und sah den Nebel schwächer werden, aber dann versagten ihm die Beine den Dienst, und er stürzte auf die erste Stufe der Treppe, die zum Rubinthron führte. Wieder hatte er Cymorils Rat hinsichtlich ihres Bruders mißachtet - und wieder war sie in Gefahr. Elrics letzter Gedanke war ganz schlicht.
›Ich bin für das Leben nicht geeignet‹, dachte er.
4
RUF AN DEN CHAOS-LORD
Kaum hatte er sich von dem Sturz erholt, der ihn bewußtlos gemacht und noch mehr Zeit gekostet hatte, schickte Elric nach Dyvim Tvar. Er wollte Neuigkeiten hören. Aber Dyvim Tvar hatte
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