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Elric von Melnibone

Elric von Melnibone

Titel: Elric von Melnibone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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überlegen, wie wir das Haus am besten erreichen, und dann unsere blinden Krieger anweisen, wie viele Straßen und Häuser zu passieren sind, und dergleichen.«
    »Was ist das für ein seltsames Geräusch?« Einer der blinden Krieger hob den Kopf. »Als würde in der Ferne ein Gong angeschlagen.«
    »Ich höre es auch!« sagte ein anderer Blinder.
    Elrics Ohren fingen den Ton nun ebenfalls auf. Ein unheimlich hallender Laut, von hoch oben kommend. Der Ton wogte zitternd durch die Luft.
    »Der Spiegel!« Dyvim Tvar hob den Blick. »Hat der Spiegel eine Eigenschaft, von der wir nichts wußten?«
    »Möglich.« Elric versuchte sich an Ariochs Worte zu erinnern. Aber Arioch hatte sich ungenau ausgedrückt. Er hatte nichts von diesem schrecklichen, lauten Ton gesagt, von diesem durchdringend schrillen Geräusch, als würde. »Er zerbricht den Spiegel!« rief er. »Aber warum?« Und plötzlich war da noch etwas, etwas, das sein Gehirn streifte. Als wäre der Laut selbst von einer gewissen Intelligenz erfüllt.
    »Vielleicht ist Yyrkoon tot, und sein Zauber stirbt mit ihm«, begann Dyvim Tvar - und verstummte laut stöhnend.
    Der Ton war lauter geworden, intensiver, und begann unangenehm in den Ohren zu schmerzen.
    Plötzlich wußte Elric Bescheid. Er legte die behandschuhten Hände über die Ohren. Die Erinnerungen im Spiegel! Sie fluteten in seinen Kopf. Der Spiegel war zerschlagen worden und gab alle Erinnerungen frei, die er in Jahrhunderten - vielleicht sogar in Äonen - gestohlen hatte. Viele dieser Erinnerungen stammten nicht von sterblichen Wesen. Es waren auch Erinnerungen von Ungeheuern und intelligenten Wesen darunter, die lange vor Melnibone gelebt hatten. Alle Erinnerungen kämpften nun um einen Platz in Elrics Schädel - in den Schädeln aller Imrryrier, in den armen gequälten Köpfen der Männer draußen, deren jämmerliche Schreie überall in den Straßen gellten - und im Schädel Hauptmann Valhariks, des Verräters, der auf den hohen Säulen das Gleichgewicht verlor und mitsamt den Spiegelscherben in die Tiefe stürzte.
    Doch Elric hörte Valhariks Schrei nicht, er hörte nicht, wie Valhariks Körper zuerst auf ein Dach prallte und dann auf der Straße aufschlug, wo er zerschmettert zwischen den Spiegelscherben liegenblieb.
    Elric lag auf dem Steinboden des Lagerhauses und wand sich konvulsivisch wie seine Kameraden, versuchte seinen Kopf vor einer Million Erinnerungen zu schützen, die nicht ihm gehörten - Erinnerungen an Liebschaften und Haßgefühle, an seltsame und normale Erlebnisse, an Kämpfe und Reisen, an Gesichter von Verwandten, die nicht seine Verwandten waren, an Männer und Frauen und Kinder, an Tiere, Schiffe und Städte, an Kämpfe, an Liebesakte, an Ängste und Sehnsüchte - und diese Erinnerungen wogten, kämpften in seinem überfüllten Schädel um die Vorherrschaft und drohten seine eigenen Erinnerungen (und damit seinen Charakter) zu vertreiben. Und während sich Elric auf dem Boden wand, die Hände auf die Ohren gepreßt, sprach er immer wieder ein Wort, das ihm helfen sollte, seine Identität zu bewahren.
    »Elric. Elric. Elric.«
    Mit einer Kraftanstrengung, die ihm bisher nur einmal gelungen war, als er Arioch auf die Ebene der Erde rief, schaffte er es allmählich, alle fremden Erinnerungsbrocken auszulöschen und seine Eigenständigkeit zu bewahren, bis er nach langer Zeit erschöpft zitternd die Hände von den Ohren nahm und seinen Namen nicht mehr brüllte. Dann stand er auf und sah sich um.
    Zwei Drittel seiner Männer und mehr waren tot, ob nun blind oder nicht. Der große Bootsmann hatte das Unglück nicht überlebt, seine Augen starrten blicklos empor, die Lippen waren zu einem Schrei verzerrt, die rechte Augenhöhle war zerkratzt und blutig: Er hatte versucht, sich das Auge herauszureißen. Die Toten lagen unnatürlich verkrümmt da, und alle hatten die Augen weit aufgerissen (wenn sie überhaupt noch Augen besaßen); viele hatten sich selbst verstümmelt, die meisten hatten sich erbrochen, einige hatten sich an den Wänden selbst die Schädel eingeschlagen. Dyvim Tvar lebte, hatte sich aber in einer Ecke zusammengerollt und murmelte Unverständliches vor sich hin. Elric hielt es für möglich, daß er den Verstand verloren hatte. Andere Überlebende waren eindeutig nicht mehr bei Sinnen, doch sie verhielten sich ruhig und stellten keine Gefahr dar. Einschließlich Elric hatten offenbar nur fünf Männer ihr altes Ich erfolgreich gegen die fremden Erinnerungen verteidigt.

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