Elsa ungeheuer (German Edition)
herauszufinden, was zur Graham-Mirberg-Show gehörte, was wirklich war. Wie weit würden zwei Frauen gehen, um das Ende ihrer Geschichte zu vergolden?
Obwohl ich mich täglich von der Lebendigkeit meines Bruders überzeugen konnte, starb er noch viele Male im Morgengrauen. Der Schlaf blieb vor der Eisentür, selten wagte er sich in das Fabrikgebäude. Unser Dealer Jerome hingegen war ein häufiger Gast.
Lorenz und ich lagen auf dem Bärenfell und betrachteten die an einigen Stellen bereits übermalte Stille , während Vera oben badete.
Ich griff nach dem Spiegel, zerhackte die Medizin mit einer meiner schwarzen Plastikkarten. Dreimal rechts. Dreimal links.
»Widerliches Teufelszeug«, sagte ich und reichte es Lorenz weiter.
»Vera hat recht, du bist ein elender Hypokrit.«
Wir lachten.
»Wie hat sie ihn dir eigentlich gemacht?«, fragte ich.
»Wen – was?«
»Den Heiratsantrag.«
»Karl, was denkst du denn? Ich habe ihr den Antrag gemacht.«
»Du?«
»Ja.«
»Und warum… warum dieses Datum? Eine Woche bevor die nächste Lizenz versteigert wird? Das war ihre Idee, oder?«
Er sah mich irritiert an. »Nein, das war mein Wunsch, weil ich dann mit dem vierten Motiv fertig bin.«
»Liebst du sie denn?« Die Frage klang verzweifelt und dämlich.
Mein Bruder lachte. »Erklär mir Liebe.«
Je länger mein Besuch dauerte, desto weniger vermochte ich zu unterscheiden, spürte aber permanent eine Bedrohung. Ein Hund oder ein Wolf?
Regen trommelte auf das Dach des Fabrikgebäudes. Der sanfte Schlag der Tropfen dröhnte in der Halle wie Stahlgewitter.
Die Menschen außerhalb dieser Mauern schliefen, träumten, während wir drei rastlos und doch erschöpft umhergeisterten.
Und da war sie wieder, die Wut meines Bruders. Er trat gegen einen Tapeziertisch, auf dem Eimer und Tuben mit Farbe standen.
»Ich kann nicht malen bei dem Lärm«, brüllte er und warf mit Pinseln um sich. Nur knapp verfehlten die Geschosse die Leinwand.
»Hör auf«, schrie Vera und stellte sich schützend vor das Gemälde. »Gestern hat es auch geregnet, und gestern konntest du malen. Vielleicht brauchst du einfach eine Pause, vielleicht gehen wir jetzt besser alle ins Bett.«
Lorenz ließ den gezückten Spachtel fallen. »Aber Vera, ich will nicht ins Bett«, sagte er zärtlich zu seiner Verlobten. »Lasst uns einen Ausflug machen.« Wie ein kleiner Junge hüpfte er im Kreis. »Wir fliegen aus. Wir fliegen aus. Wir fliegen aus.«
180 PS , mein Bruder am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz und Vera auf meinem Schoß. Die Autobahn gehörte uns. Wir hatten kein Ziel, Geister haben keine Ziele.
200 Stundenkilometer. Freudengeheul aus Lorenz’ Kehle, aus meiner Kehle.
»Schneller, schneller«, spornte ich ihn an. Veras Körper erstarrte.
220 Stundenkilometer.
»Schneller, Lorenz, schneller!«
»Nein«, sagte sie.
250 Stundenkilometer.
»Schneller!«
Bilder schoben sich vor die Frontscheibe. Blut. Überall Blut. Es strömte aus unsern Körpern. Irina Graham applaudierte. »Das ist wirklich ein gelungenes Ende.« Ich konnte das Blut schmecken, riechen. Ich schloss meine Augen, öffnete sie: die Autobahn. Wir fuhren immer noch.
Vera drehte ihren Kopf zu mir. »Du blutest.«
Ich hing über dem Waschbecken der Rasthoftoilette. Normalerweise hörte es relativ rasch auf. Aber jetzt sprudelten zwei Fontänen aus meinen Nasenlöchern. Ich versuchte gar nicht mehr, sie mit Papierhandtüchern zu stoppen, betrachtete bloß den Mann im Spiegel. Ein Hund oder ein Wolf?
Brauer war ein begehrter Partygast. Täglich flatterten Einladungen in die Fabrikhalle. Vera entschied, welche man annehmen musste und welche man ignorieren durfte. Selten begleitete ich die beiden. Der Gedanke, mit fremden Menschen in einem Raum eingepfercht zu sein – denn was waren solche Anlässe schon anderes? –, löste immer öfter Panik in mir aus. Veras Medizin hatte einen Teil ihrer glorreichen Wirkung eingebüßt. Stärke und Leichtigkeit währten meist nur noch kurze Augenblicke. Winzige Glückspfützen und nicht das anfängliche Glücksmeer, in dem ich mich treiben lassen konnte. Die Welt war kein verheißungsvoller Ort und mein schlafloser Körper einfach unendlich müde. So der Normalzustand. Dann, unerwartet und heftig, wirkte das weiße Pulver wieder, und ein unbändiger Hunger nach Leben packte mich. Zog mich auf die Beine, zog mich aus der Festung, in der drei Menschen und die Ewigkeit wohnten.
Nach einer langen, trostlosen Woche war es endlich
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