Elysion: Roman (German Edition)
Wäre es nach ihm gegangen, er wäre bis ans Ende seiner Tage in seinem Labor geblieben. Aber er hatte Verantwortung übernommen. Verantwortung für Abertausende von Menschen. Denn das Elysion war mittlerweile so groß, dass überhaupt nur ein Bruchteil seiner Bewohner im Tempel Platz fanden.
Erst waren es nur ein paar Verstreute gewesen, aber dann hatte der Bürgerkrieg, der in den Städten tobte, immer mehr in die Wälder getrieben. Doch auch hier hatte es keinen Frieden gegeben. Im Gegenteil. Denn die Menschen hatten das Leben in einer vorindustriellen Gesellschaft verlernt. Hunger und Krankheit hatten den Alltag nicht weniger bestimmt als draußen in den zunehmend verwaisten Städten. Wie wilde Tiere waren sie übereinander hergefallen im Kampf um die letzten Vorräte.
Dem Pontifex war nicht entgangen, was sich da in der unmittelbaren Nachbarschaft seines Labors abgespielt hatte. Und er hatte eine Antwort auf die Situation gehabt.
Seine Schöpfung.
Die Malachim.
Zuallererst hatten sie auf seinen Befehl nichts anderes getan, als sich durch ein paar spektakuläre Aktionen Respekt unter den Menschen zu verschaffen. Dass es dabei sehr blutig zugegangen war, war ein notwendiges Übel gewesen. Das Blut weniger musste fließen, um das große Blutvergießen, das überall im Lande tobte, hier nun endlich zu unterbinden.
Sein eigenes hartes Schicksal, die Dinge, die man ihm angetan hatte, hatten ihm gezeigt, zu was Menschen in der Lage waren, wenn sie ihrem inneren Wolf freien Lauf ließen. Die lange Phase der Demokratie hatte diesen Wolf nicht vertreiben können oder gar verhungern lassen, sondern ihn nur die ganze Zeit über in einem Käfig gehalten. In den Bürgerkriegen war die Bestie dann ausgebrochen, und die Menschen hatten ihr wahres Gesicht gezeigt.
Er hatte die Geschichtsbücher studiert und erkannt, dass es zu keiner Zeit anders gewesen war. Dreißigjähriger Krieg, amerikanischer Bürgerkrieg, zwei Weltkriege, Naher Osten, Tibetaufstand … Die Menschen ließen keine Gelegenheit aus, sich systematisch umzubringen.
Der schreckliche Verlust jener, die er geliebt hatte, hatte ihn endgültig überzeugt, dass es nur eine angemessene Regierungsform für die Menschheit gab …
Diktatur.
Was war Freiheit wert, wenn sie als die Freiheit verstanden wurde, seinen Nächsten für ein paar Dollar und ein Häuflein Lebensmittel über den Haufen schießen zu können? Wie konnte man jemals wieder einer Menschheit vertrauen, deren Mitglieder bereit waren, die Kinder ihrer Nachbarn zu entführen und wie Vieh zu lagern, nur um ihren Hunger zu stillen? Bis zu diesem Tag wusste er nicht, was mit seiner eigenen Tochter geschehen war. Ihre Leiche hatte er nie gefunden. Aber die allgegenwärtigen Gerüchte über Kannibalismus, Zwangsprostitution und grausame Endzeitkulte hatten ihm jede Hoffnung genommen, sie jemals wiederzusehen.
Er ließ den Blick über die Menge schweifen. Ein großer, kräftiger Kerl recht weit vorn nickte ihm zu. Unter der Kapuze, die er trug, konnte der Pontifex sein Gesicht nur erahnen. Er würdigte den Mann keiner Reaktion und machte sich eine geistige Notiz, derartige Vermummung in Zukunft zu verbieten. Menschen tendierten dazu, jeden Freiraum, der sich ihnen bot, auszunützen, ob nun zum Guten oder zum Schlechten, meist aber zum Schlechten.
Er wappnete sich innerlich gegen das, was ihm nun bevorstand. Viele der Menschen hier ergötzten sich an der Zurschaustellung der Gewalt, die zwangsläufig mit der Bestrafung einherging. Er gehörte ganz bestimmt nicht dazu. Strafe war Mittel zum Zweck. Menschen folgten Regeln nicht aus Vernunft, sondern nur aus Angst vor Strafe. Das war die traurige Wahrheit. Deswegen musste die Strafe sichtbar und drastisch sein. Damit die Menschen sie für lange Zeit nicht vergaßen. Daher war es seine verdammte Pflicht, sich über die eigenen Skrupel, über sein schlechtes Gewissen und jedes falsche Mitgefühl hinwegzusetzen. Jede Strafe rettete Leben.
Sein Blick suchte diejenigen, die er zu den Hauptpersonen der heutigen Veranstaltung erkoren hatte, und er entdeckte sie schließlich nicht weit vom Findling mitten in der Menge. Bleich, mit großen, ängstlich blickenden Augen. Der kleine Sean auf den Schultern seines großen Bruders. Der Pontifex wusste, dass ihm die folgenden Minuten das Herz zerschneiden würden. Aber er wusste ebenso, dass er keine Wahl hatte. Der Mob dort unten würde jedes Zeichen von Schwäche registrieren und seine Schlüsse daraus
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