E.M. Remarque
Gruppe der Sammler.
»Eine
Explosion!« rief der Dolmetscher und lief hinüber. »Sie haben beim Graben eine
Granate erwischt!«
Die
Frau wußte nicht, wie es geschehen war, aber schon kniete sie neben einem Mann,
dessen Bein in Stücke zerfetzt war. Sie hatte den Ärmel von einer Arbeiterjacke
gerissen und wickelte ihn um den Oberschenkel; sie nahm ein Eisenstück vom
Boden, zwängte es in den Knoten und band den Mann ab, der ohnmächtig wurde, als
er sich auf dem Ellbogen aufstützte, um die Wunde zu sehen. Seine Kameraden
trugen ihn weg zu den Hütten. Die Frau stand auf. Der Dolmetscher überschüttete
sie mit Gerede – dies war die siebte Explosion hier in zwei Wochen! Sie sah
sich um nach einem Grasbüschel, mit dem sie sich das Blut von den Händen
wischen konnte. Dann war sie ganz plötzlich hellwach und horchte auf. Der
verletzte Mann war schon außer Hörweite, aber noch immer war ein hohles,
ersticktes Schreien zu hören. Sie lief zurück. –
Der
Schrei kam von Thiedemann. Er lag flach auf dem Boden, als hätte er sich wie
verrückt in Deckung geworfen. Seine Schultern hoben sich, und er brüllte in die
Erde hinein. Der Dolmetscher sah ihn erstaunt an und wollte ihn aufheben. Aber
die Frau hielt ihn zurück.
Ein
paar Arbeiter kamen von der Hütte herübergelaufen. Sie meinten, Thiedemann sei
verwundet, und wollten ihn wegtragen. Aber die Frau ließ niemanden heran. Sie
war plötzlich wie verwandelt: Sie bewegte sich hastig, und doch zwang sie sie
wegzugehen, solche Kraft und solch flehende Angst waren in ihren Augen.
Kopfschüttelnd gingen sie endlich weg, sogar der Dolmetscher, und die Frau
beobachtete sie, bis sie sich im Labyrinth der Gräben verloren. Dann setzte sie
sich auf die Stufen des Unterstands und wartete.
Die
Dämmerung
brach herein, und Thiedemann wurde ganz still. Er lag jetzt auf dem Boden wie
damals, und die Klänge des Angelusläutens schwebten über dem nächtlichen Lager.
Aber die Frau blieb weiter reglos sitzen.
Schließlich
rührte Thiedemann sich. Er versuchte, sich auf den Ellbogen aufzurichten, aber
er sackte wieder hin. Nach einer Weile versuchte er es ein zweites Mal. Die
Frau bot ihm keine Hilfe. Sie zog sich nur tiefer in die Dunkelheit des
Unterstands zurück.
Thiedemann
tastete über den Boden. Seine Hände lockerten ein Stück der Holzverschalung. Er
versuchte aufzustehen, aber vergeblich. Dann saß er da und strich immer wieder
mit den Händen über das Gras. Er hob den Kopf und drehte ihn langsam hin und her.
Und das machte er eine ganze Zeit.
Ein
Vogel fing an, über den Köpfen der beiden Menschen zu singen. Thiedemanns Hände
beruhigten sich. »Anna ...«, sagte er, leicht erstaunt.
Die
Frau sagte noch immer nichts, aber als sie jetzt Thiedemanns Arm nahm, um ihn
wegzuführen, zuckte ihr Gesicht plötzlich, als würde es in Stücke fallen, und
sie schwankte einen Moment.
Ein
paar Wochen später konnte Thiedemann den Hof wieder übernehmen. Seine Frau
hatte ihn gut bewirtschaftet; denn das Vieh hatte sich um vierzehn junge Kühe
vermehrt, und außerdem hatte sie die Wiesen und ein paar Felder dazukaufen
können.
Die Geschichte von Annettes Liebe
Annette Stoll wuchs in
einer kleinen Universitätsstadt in Mitteldeutschland auf. Sie war ein frisches,
junges Mädchen mit hellem Teint, unbekümmert und zum Lachen aufgelegt. Sie
besuchte die Schule mit mäßigem Eifer und hatte eine Schwäche für Süßigkeiten
und Filme. Der Spielgefährte ihrer Kindheit war der junge Gerhard Jäger, etwa
drei Jahre älter als sie, dünn und schlaksig, mit einer Vorliebe für Bücher und
ernsthafte Gespräche.
Sie waren Nachbarn,
und ihre Eltern waren befreundet. So ergab es sich, daß die beiden wie Bruder
und Schwester zusammen aufwuchsen. Die Abenteuer des
Weitere Kostenlose Bücher