E.M. Remarque
keuchte Lohmann. »Es ist leicht! Eine Zange! Oder ein Draht
ist schon genug.«
»Wir haben keine Zange.«
»Ein Draht! Biegt einen Draht zurecht.«
»Wir haben auch keinen Draht.«
Lohmanns Augen fielen zu. Er war erschöpft. Die Lippen bewegten sich, aber es
kamen keine Worte mehr. Der Körper war bewegungslos und sehr flach, und nur das
Gekräusel der dunklen, trockenen Lippen war noch da – ein winziger Strudel
Leben, in den die Stille schon bleiern floß.
509 richtete sich auf und blickte Berger an. Lohmann konnte ihre Gesichter
nicht sehen; die Bretter der Betten waren dazwischen. »Wie steht es mit ihm?«
»Zu spät für alles.«
509 nickte. Es war schon oft so gewesen, daß er wenig mehr empfand. Die schräge
Sonne fiel auf fünf Leute, die wie dürre Affen im obersten Bett hockten.
»Kratzt er bald ab?« fragte einer, der seine Armhöhlen rieb und gähnte.
»Warum?«
»Wir kriegen sein Bett. Kaiser und ich.«
»Du wirst es schon kriegen.« 509 schaute einen Augenblick in das schwebende
Licht, das gar nicht zu dem stinkenden Raum zu gehören schien. Die Haut des
Mannes, der gefragt hatte, sah darin aus wie die eines Leoparden; sie war
übersät mit schwarzen Flecken. Der Mann begann faules Stroh zu essen. Ein paar
Betten weiter zankten sich zwei Leute mit hohen, dünnen Stimmen. Man hörte kraftlose
Schläge.
509 fühlte ein leichtes Zerren an seinem Bein; Lohmann zupfte an seiner Hose.
Er beugte sich wieder herunter, »'rausziehen!« flüsterte Lohmann.
509 setzte sich auf den Bettrand. »Wir können nichts dafür tauschen. Es ist zu
gefährlich. Keiner wird es riskieren.«
Lohmanns Mund zitterte. »Sie sollen ihn nicht haben«, stieß er mit Mühe hervor.
»Die nicht! Fünfundvierzig Mark habe ich dafür bezahlt. 1929. Die nicht! Zieht
ihn 'raus!«
Er krümmte sich plötzlich und stöhnte. Die Haut seines Gesichts verzog sich nur
an den Augen und an den Lippen – sonst waren keine Muskeln mehr da, um Schmerz
anzuzeigen.
Nach einer Weile streckte er sich aus. Ein kläglicher Laut kam mit der
ausgepreßten Luft aus seiner Brust. »Kümmere dich nicht darum«, sagte Berger zu
ihm. »Wir haben noch etwas Wasser. Es tut nichts. Wir machen es weg.« Lohmann
lag einige Zeit still. »Versprecht mir, daß ihr ihn 'rausnehmt – bevor sie mich
abholen«, flüsterte er dann. »Dann könnt ihr es doch.«
»Gut«, sagte 509. »Ist er nicht eingetragen worden, als du ankamst?«
»Nein. Versprecht es! Bestimmt!«
»Bestimmt.«
Lohmanns Augen verschleierten sich und wurden ruhig. »Was war das – vorhin –
draußen?«
»Bomben«, sagte Berger. »Man hat die Stadt bombardiert. Zum ersten Male.
Amerikanische Flieger.«
»Oh ...«
»Ja«, sagte Berger leise und hart. »Es kommt näher! Du wirst gerächt werden,
Lohmann.« 509 blickte rasch auf. Berger stand noch, und er konnte sein Gesicht
nicht sehen. Er sah nur seine Hände. Sie öffneten und schlossen sich, als
würgten sie eine unsichtbare Kehle und ließen sie los und würgten sie wieder.
Lohmann lag still. Er hatte die Augen wieder geschlossen und atmete kaum. 509
wußte nicht, ob er noch verstanden hatte, was Berger gesagt hatte.
Er stand auf. »Ist er tot?« fragte der Mann auf dem oberen Bett. Er kratzte
sich noch immer. Die anderen vier hockten neben ihm wie Automaten. Ihre Augen
waren leer.
»Nein.« 509 wandte sich zu Berger. »Weshalb hast du es ihm gesagt?«
»Weshalb?« Bergers Gesicht zuckte. »Deshalb! Verstehst du das nicht?«
Das Licht hüllte seinen eiförmigen Kopf in eine rosa Wolke.
In der verpesteten, dicken Luft sah es aus, als dampfe er. Die Augen
glitzerten. Sie waren voll Wasser, doch das waren sie meistens; sie waren
chronisch entzündet. 509 konnte sich denken, warum Berger es gesagt hatte. Aber
was war es schon für ein Trost für einen Sterbenden, das noch zu wissen? Es
konnte es ebenso gut
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