E.M. Remarque
noch schwerer für ihn machen. Er sah, wie eine Fliege sich
auf das schieferfarbene Auge eines der Automaten setzte.
Der Mann blinkte nicht mit den Lidern. Vielleicht war es doch ein Trost, dachte
509.
Vielleicht war es sogar der einzige Trost für einen untergehenden Mann.
Berger drehte sich um und schob sich durch den schmalen Gang zurück. Er mußte
über die Leute steigen, die am Boden lagen. Es sah aus, als wate ein Marabu
durch einen Sumpf. 509 folgte ihm. »Berger!« flüsterte er, als sie aus dem Gang
heraus waren.
Berger blieb stehen. 509 war plötzlich atemlos. »Glaubst du es wirklich?«
»Was?« 509 konnte sich nicht entschließen, es zu wiederholen. Ihm war, als
flöge es dann weg. »Das, was du zu Lohmann gesagt hast.«
Berger sah ihn an. »Nein«, sagte er.
»Nein?«
»Nein. Ich glaube es nicht.«
»Aber ...« 509 lehnte sich gegen das nächste Brettergestell. »Wozu hast du es
dann gesagt?«
»Ich habe es für Lohmann gesagt. Aber ich glaube es nicht. Keiner wird gerächt
werden, keiner – keiner – keiner ...«
»Und die Stadt? Die Stadt brennt doch!«
»Die Stadt brennt. Viele Städte haben schon gebrannt. Das heißt nichts, nichts
...«
»Doch! Es muß ...«
»Nichts! Nichts!« flüsterte Berger heftig, mit einer Verzweiflung wie jemand,
der sich eine phantastische Hoffnung gemacht und sie gleich wieder begraben
hat. Der bleiche Schädel pendelte, und das Wasser lief aus den roten
Augenhöhlen. »Eine kleine Stadt brennt. Was hat das mit uns zu tun? Nichts!
Nichts wird sich ändern. Nichts!«
»Erschießen werden sie welche«, sagte Ahasver vom Boden her.
»Schnauze!« schrie die Stimme von früher aus dem Dunkel. »Haltet doch endlich
einmal eure gottverdammten Schnauzen!«
509 hockte auf seinem Platz an der Wand. Über seinem Kopf befand sich eines der
wenigen Fenster der Baracke. Es war schmal und hoch angebracht und hatte um
diese Zeit etwas Sonne. Das Licht kam dann bis zur dritten Reihe der
Bettbretter; von dort an lag der Raum in ständigem Dunkel.
Die Baracke war erst vor einem Jahr errichtet worden. 509 hatte sie aufstellen
helfen; er hatte damals noch zum Arbeitslager gehört. Es war eine alte
Holzbaracke aus einem aufgelösten Konzentrationslager in Polen. Vier davon
waren eines Tages auseinandergenommen auf dem Bahnhof der Stadt angekommen, auf
Lastwagen zum Lager geschafft und dort aufgebaut worden. Sie hatten nach
Wanzen, Angst, Schmutz und Tod gestunken. Aus ihnen war das Kleine Lager
entstanden. Der nächste Transport arbeitsunfähiger, sterbender Häftlinge aus
dem Osten war hineingepfercht und sich selbst überlassen worden. Es hatte nur
ein paar Tage gedauert, bis er hinausgeschaufelt werden konnte. Man hatte dann
weiter Kranke, Zusammengebrochene, Krüppel und Arbeitsunfähige hineingesteckt,
und es war zu einer dauernden Einrichtung geworden. Die Sonne warf ein
verschobenes Viereck von Licht auf die Wand rechts vom Fenster. Verblaßte
Inschriften und Namen wurden darin sichtbar. Es waren Inschriften und Namen von
früheren Insassen der Baracke in Polen und Ostdeutschland.
Sie waren mit Bleistift auf das Holz gekritzelt oder mit Drahtstücken und
Nägeln hineingeritzt worden.
509 kannte eine Anzahl davon. Er wußte, daß die Spitze des Vierecks jetzt
gerade einen Namen aus dem Dunkel hob, der mit tiefen Strichen eingerahmt war –
Chaim Wolf, 1941. Chaim Wolf hatte ihn wahrscheinlich hineingeschrieben, als er
wußte, daß er sterben mußte, und die Striche darum gezogen, damit niemand von
seiner Familie hinzukommen sollte. Er hatte es endgültig machen wollen, so daß
er allein es war und bleiben würde. Chaim Wolf, 1941, die Striche eng und hart
darum, so daß kein anderer Name mehr hineinzuschreiben war – eine letzte
Beschwörung des
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