E.M. Remarque
Schicksals, von einem Vater, der hoffte, daß seine Söhne
gerettet werden würden.
Aber darunter, unter den Strichen, dicht, als wollten sie sich daran klammern,
standen zwei andere Namen: Rüben Wolf und Moische Wolf. Der erste steil,
ungelenk, eine Schülerschrift; der zweite schräg und glatt, ergeben und ohne
Kraft. Eine andere Hand hatte daneben geschrieben: alle vergast.
Schräg darunter, über einem Astknoten an der Wand war mit einem Nagel
eingeritzt: Jos. Meyer und dazu: Lt. d. R. EK 1 u. 2. Es hieß: Joseph Meyer,
Leutnant der Reserve, Inhaber des Eisernen Kreuzes erster und zweiter Klasse.
Meyer hatte das anscheinend nicht vergessen können. Es mußte noch seine letzten
Tage vergiftet haben.
Er war im ersten Weltkrieg an der Front gewesen; er war Offizier geworden und
hatte die Auszeichnungen bekommen; er hatte, weil er Jude war, dafür doppelt
soviel leisten müssen als jeder andere. Dann hatte man ihn später, ebenfalls
weil er Jude war, eingesperrt und wie Ungeziefer vernichtet. Er war zweifellos
überzeugt davon gewesen, daß das Unrecht für ihn wegen seiner Leistungen im
Kriege größer gewesen sei als für andere. Er hatte sich geirrt. Er war nur
schwerer gestorben. Das Unrecht lag nicht in den Buchstaben, die er seinem
Namen hinzugefügt hatte. Sie waren nur eine schäbige Ironie.
Das Sonnenviereck glitt langsam weiter. Chaim, Rüben und Moische Wolf, die es
nur mit der Spitze gestreift hatte, verschwanden wieder im Dunkel. Dafür
rückten zwei neue Inschriften ins Licht. Die eine bestand nur aus zwei
Buchstaben: F. M.
Der, der sie mit dem Nagel eingekratzt hatte, hatte nicht mehr so viel auf sich
gegeben wie der Leutnant Meyer. Schon sein Name war ihm fast gleichgültig
gewesen; trotzdem hatte er nicht ganz ohne ein Zeichen untergehen wollen.
Darunter aber erschien wieder ein voller Name. Mit Bleistift hingeschrieben
stand da: Tevje Leibesch und die Seinen. Und daneben, flüchtiger, der Anfang
des jüdischen Kaddischgebetes: Jis gadal – 509 wußte, daß das Licht in einigen
Minuten eine andere verwischte Schrift erreichen würde: »Schreibt Leah Sand –
New York.« Die Straße war nicht mehr zu lesen, dann kam: »Vat ...« und nach einem
Stück verfaulten Holzes: »tot. Sucht Leo.« Leo schien entkommen zu sein; doch
die Inschrift war umsonst gemacht worden. Keiner der vielen Insassen der
Baracke hatte jemals Leah Sanders in New York benachrichtigen können.
Niemand war lebend herausgekommen.
509 starrte abwesend auf die Wand. Der Pole Silber hatte sie, als er noch mit
blutenden Därmen in der Baracke lag, die Klagemauer genannt. Er hatte auch die
meisten Namen auswendig gekannt und im Anfang sogar gewettet, welcher zuerst
von dem Sonnenfleck getroffen werden würde. Silber war bald darauf gestorben;
die Namen aber waren weiter an hellen Tagen für einige Minuten zu einem
geisterhaften Leben erwacht und dann wieder im Dunkel versunken. Im Sommer,
wenn die Sonne höher stand, waren andere, die tiefer unten eingekratzt waren,
sichtbar geworden, und im Winter rückte das Viereck höher hinauf. Doch es gab
noch viele mehr, russische, polnische, jiddische, die für immer unsichtbar
blieben, weil das Licht nie bis zu ihnen kam. Die Baracke war so schnell
aufgerichtet worden, daß die SS sich nicht darum gekümmert hatte, die Wände
abhobeln zu lassen. Die Insassen kümmerten sich noch weniger darum, besonders
nicht um die Inschriften an den dunklen Teilen der Wände.
Niemand versuchte auch nur, sie zu entziffern. Wer wollte auch schon so töricht
sein, ein kostbares Streichholz zu opfern, um noch mehr zu verzweifeln – 509
wandte sich ab; er wollte das jetzt nicht sehen. Er fühlte sich plötzlich
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