E.M. Remarque
auf
eine sonderbare Weise allein; als wären die anderen ihm durch etwas Unbekanntes
entfremdet worden, und sie verständen sich nicht mehr. Eine Weile zögerte er
noch; dann konnte er es nicht mehr aushallen. Er tastete sich zur Tür und kroch
wieder hinaus.
Er trug jetzt nur seine eigenen Lumpen und fror sofort. Draußen richtete er sich auf, lehnte sich gegen die Wand der Baracke und
blickte auf die Stadt. Er wußte nicht genau, warum – aber er wollte nicht
wieder wie vorher auf allen vieren hocken; er wollte stehen. Die Posten auf den
Wachtürmen des Kleinen Lagers waren noch nicht zurück. Die Aufsicht an dieser
Seite war nie sehr streng; wer kaum gehen konnte, entfloh nicht mehr.
509 stand an der rechten Ecke der Baracke. Das Lager verlief in einer Kurve,
die dem Höhenzuge folgte, und er konnte von hier nicht nur die Stadt, sondern
auch die Kasernen der SS-Mannschaften sehen. Sie lagen außerhalb des
Stacheldrahtes hinter einer Reihe von Bäumen, die noch kahl waren. Eine Anzahl
von SS-Leuten lief vor ihnen hin und her. Andere standen in aufgeregten Gruppen
zusammen und blickten zur Stadt hinunter. Ein großes, graues Automobil kam
rasch den Berg herauf. Es hielt vor der Wohnung des Kommandanten, die ein Stück
abseits von den Kasernen lag.
Neubauer stand bereits draußen; er stieg sofort ein, und der Wagen jagte los.
509 wußte von seiner Zeit im Arbeitslager, daß der Kommandant ein Haus in der
Stadt besaß, in dem seine Familie wohnte. Aufmerksam blickte er dem Wagen nach.
Dabei überhörte er, daß jemand leise den Mittelweg zwischen den Baracken
entlang kam. Es war der Blockälteste von Baracke 22, Handke, ein untersetzter
Mann, der immer auf Gummisohlen herumschlich. Er trug den grünen Winkel der
Kriminellen.
Meistens war er harmlos, aber wenn er seinen Koller kriegte, hatte er schon
öfter Leute zu Krüppeln geschlagen.
Er schlenderte heran. 509 hätte noch versuchen können, sich wegzudrücken, als
er ihn sah – Zeichen von Angst befriedigten gewöhnlich Handkes einfache
Überlegenheitsgelüste –, aber er tat es nicht. Er blieb stehen.
»Was machst du hier?«
»Nichts.«
»So, nichts.« Handke spuckte 509 vor die Füße. »Du Mistkäfer! Träumst dir wohl
was, wie?« Seine flächsernen Brauen hoben sich. »Bilde dir bloß nichts ein! Ihr
kommt hier nicht heraus! Euch politische Hunde jagen sie vorher alle erst noch
durch den Schornstein.«
Er spuckte wieder aus und ging zurück. 509 hatte den Atem angehalten. Ein
dunkler Vorhang wehte eine Sekunde hinter seiner Stirn. Handke konnte ihn nicht
leiden, und 509 ging ihm gewöhnlich aus dem Wege. Diesmal war er stehen
geblieben. Er beobachtete ihn, bis er hinter der Latrine verschwunden war. Die
Drohung schreckte ihn nicht; Drohungen waren alltäglich im Lager. Er dachte nur
an das, was dahinter steckte. Handke hatte also auch etwas gespürt. Er hätte es
sonst nicht gesagt.
Vielleicht hatte er es sogar drüben bei der SS gehört. 509 atmete tief. Er war
also doch kein Narr.
Er blickte wieder auf die Stadt. Der Rauch lag jetzt dicht über den Dächern.
Das Läuten der Feuerwehr klang dünn herauf. Aus der Richtung des Bahnhofs kam
unregelmäßiges Knattern, als explodiere dort Munition. Der Wagen des
Lagerkommandanten nahm unten am Berge eine Kurve so schnell, daß er rutschte.
509 sah es, und plötzlich verzog sich sein Gesicht. Es verzerrte sich zu einem
Lachen. Er lachte, lachte, lautlos, krampfhaft, er wußte nicht, wann er zum
letzten Male gelacht hatte, er konnte nicht aufhören, und es war keine
Fröhlichkeit darin, er lachte und sah sich vorsichtig um und hob eine kraftlose
Faust und ballte sie und lachte, bis ein schwerer Husten ihn niederwarf.
III
D er Mercedes schoß ins
Tal hinunter. Obersturmbannführer
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