E.M. Remarque
Mund sein mußte.
Das Gesicht fing plötzlich stärker an zu bluten. Die flache Maske wurde
lebendig durch den hinzutretenden Tod. Der Mund röchelte jetzt. Die Finger der
Hand kratzten über den Mörtel, und der Kopf mit den blinden Augen zitterte. Er
zitterte und wurde dann still. Der Mann mit der Schaufel richtete sich auf. Er
wischte die verschmierten Hände an einem gelben, seidenen Vorhang ab, der mit
einem Fenster heruntergestürzt war. »Tot«, sagte er. »Sind noch mehr da unten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sind Sie keiner aus dem Hause?«
»Nein.«
Der Mann deutete auf den Kopf. »Verwandter von Ihnen? Bekannter?«
»Nein.«
Der Mann blickte auf das Sauerkraut, die Wurst, den Reis und die Kartoffeln,
sah Neubauer dann an und zuckte die Achseln.
Er schien nicht viel Respekt vor einem hohen SS-Führer zu haben. Es war
allerdings auch ein reichliches Essen für diese Zeit des Krieges. Neubauer
fühlte, wie er errötete. Er drehte sich rasch weg und kletterte die Trümmer
hinunter.
Es dauerte fast eine Stunde, bis er endlich zur Friedrichsallee kam. Sie war
unbeschädigt.
Er ging sie aufgeregt entlang. Wenn in der nächsten Querstraße die Häuser
unzerstört waren, würde sein Geschäftshaus auch noch stehen, dachte er
abergläubisch.
Die Straße war heil. Die folgenden zwei auch. Er faßte Mut und ging rascher.
Ich werde es noch einmal probieren, dachte er; wenn in der folgenden Straße die
ersten zwei Häuser nichts abgekriegt haben, dann bin auch ich glatt
davongekommen.
Es klappte. Erst das dritte Haus war ein Trümmerhaufen.
Neubauer spuckte aus; seine Kehle war trocken vom Staub. Zuversichtlich bog er
um die Ecke zur Hermann-Göring-Straße und blieb stehen.
Die Bomben hatten gründliche Arbeit geleistet. Die oberen Stockwerke seines
Geschäftshauses waren völlig zusammengebrochen. Die Eckfront fehlte. Sie war
zur anderen Straßenseite hinübergeschleudert worden, in ein Antiquitätengeschäft
hinein.
Der Gegendruck hatte einen bronzenen Buddha von dort weithin auf die Straße
geworfen. Der Heilige saß allein auf einem Stück heilen Pflasters. Er hielt die
Hände im Schoß und blickte gelassen lächelnd über die abendländische Zerstörung
hinweg in die Richtung der Bahnhofsruinen – als warte er auf einen asiatischen
Geisterzug, der ihn zurückholen solle zu den einfachen Gesetzen des Dschungels,
wo man tötete, um zu leben, und nicht lebte, um zu töten.
Neubauer hatte im ersten Moment das törichte Gefühl, vom Schicksal in
niederträchtiger Weise betrogen worden zu sein. Die Querstraßen hatten alle
gestimmt – und da passierte dieses hier! Es war wie die schwere Enttäuschung
eines Kindes. Er hätte weinen mögen. Ihm, ihm mußte so etwas geschehen! Er sah
die Straße entlang. Einige Häuser standen noch. Warum die nicht? dachte er.
Warum geschieht das gerade mir, einem anständigen Patrioten, einem guten
Ehemann, einem sorgenden Vater? Er ging um den Krater in der Straße herum. Alle
Schaufenster der Modeabteilung waren zerbrochen. Wie Eis lagen überall die
Splitter. Sie knirschten unter seinen Füßen. Er kam zur Abteilung: »Letzte Mode
für die deutsche Frau«.
Das Schild hing halb herunter. Er bückte sich und trat in den Raum. Es roch
nach Brand, aber er sah kein Feuer. Die Modepuppen waren durcheinandergeworfen.
Es wirkte, als seien sie von einer Horde Wilder vergewaltigt worden. Einige
lagen auf dem Rücken, die Kleider hochgeblasen, die Beine aufgestellt; andere,
mit gebrochenen Armen, die Wachshintern herausgereckt, auf dem Bauch. Eine war
nackt bis auf ihre Handschuhe; eine andere stand in einer Ecke, ein Bein
weggebrochen, einen Hut auf und einen Schleier vor dem Gesicht. Alle lächelten
in
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