E.M. Remarque
deiner Tochter trauen.«
»Ja – ja – aber der Eindruck! Der Anwalt ...«
»Pfeif auf den Eindruck! Freya war ein Kind bei der Machtübernahme. Man kann
ihr nichts vorwerfen!«
»Was heißt das? Meinst du, man kann mir was vorwerfen?«
Selma schwieg. Sie sah Neubauer wieder mit dem eigentümlichen Blick an.
»Wir sind Soldaten«, sagte er. »Wir handeln auf Befehl. Und Befehl ist Befehl,
das weiß jeder.« Er reckte sich. »Der Führer befiehlt; wir gehorchen. Der
Führer übernimmt die volle Verantwortung für das, was er befiehlt. Er hat das
oft genug erklärt. Das genügt für jeden Patrioten. Oder nicht?«
»Ja«, sagte Selma resigniert. »Aber geh zum Anwalt. Laß unseren Besitz auf
Freya überschreiben.«
»Meinetwegen. Ich kann mal mit ihm sprechen.« Neubauer dachte nicht daran, es
zu tun. Seine Frau war hysterisch vor Angst. Er klopfte ihr auf den Rücken.
»Laß mich nur machen. Ich habe es doch immer noch geschafft.«
Er stapfte hinaus. Selma Neubauer ging zum Fenster. Sie sah ihn in den Wagen
steigen. Beweise! Befehle! dachte sie. Das ist ihnen der Freispruch für alles.
Schön und gut, solange es klappte. Hatte sie nicht selber mitgemacht? Sie
blickte auf ihren Ehering. Vierundzwanzig Jahre trug sie ihn nun; er hatte
zweimal erweitert werden müssen. Damals, als sie ihn bekam, war sie eine andere
Person gewesen. Um die Zeit war auch ein Jude dagewesen, der sie hatte heiraten
wollen. Ein kleiner, tüchtiger Mann, der lispelte und nicht schrie. Josef
Bomfelder hatte er geheißen. Er war 1928 nach Amerika gegangen. Kluger Mann.
Rechtzeitig. Sie hatte dann noch einmal etwas von ihm gehört, über eine
Bekannte, der er geschrieben hatte, es ginge ihm sehr gut.
Mechanisch drehte sie an ihrem Trauring. Amerika, dachte sie. Da gibt es
niemals Inflation. Die sind zu reich.
509 horchte. Er kannte die Stimme. Vorsichtig hockte er sich hinter den
Haufen von Toten und lauschte.
Er wußte, daß Lewinsky diese Nacht jemand vom Arbeitslager hatte bringen
wollen, der einige Tage versteckt bleiben sollte; aber Lewinsky hatte, getreu
der alten Regel, daß nur Verbindungsleute sich kennen sollten, nicht gesagt,
wer es war.
Der Mann sprach leise, aber sehr klar. »Wir brauchen jeden Mann, der mit uns
ist«, sagte er. »Wenn der Nationalsozialismus fällt, ist zum ersten Male keine
geschlossene Partei da, um die politische Leitung zu übernehmen. Alle sind in
den zwölf Jahren zersplittert oder zerstört worden. Die Reste sind in den
Untergrund gegangen. Wir wissen nicht, wieviel sich davon erhalten hat. Es wird
entschlossene Leute brauchen, um eine neue Organisation aufzubauen. Nur eine
einzige Partei wird im Chaos der Niederlage intakt bleiben: der
Nationalsozialismus. Ich meine nicht die Mitläufer, die schließen sich jeder
Partei an – ich meine den Kern. Er wird geschlossen in den Untergrund gehen und
warten, um wieder herauszukommen. Dagegen haben wir zu kämpfen; und dazu
brauchen wir Leute.«
Es ist Werner, dachte 509; er muß es sein; aber ich weiß doch, daß er tot ist.
Er konnte nichts sehen; die Nacht war mondlos und diesig. »Die Massen draußen
sind zum großen Teil demoralisiert«, sagte der Mann. »Zwölf Jahre Terror,
Boykott, Denunziationen und Angst haben das geschafft – dazu kommt jetzt der
verlorene Krieg. Sie können durch Untergrundterror und Sabotage noch jahrelang
in Angst vor den Nazis gehalten werden. Sie müssen wieder gewonnen werden – die
Verführten und Verängstigten. Ironischerweise hat sich die Gegnerschaft zu den
Nazis in den Lagern besser erhalten als irgendwo draußen. Man hat uns zusammengesperrt;
draußen hat man die Gruppen auseinandergetrieben. Draußen war es schwer,
Verbindungen aufrechtzuerhalten;
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