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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Funke Leben
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der
zer­stör­ten Stadt hoch­ge­wor­fen. Ber­ger schlief fest. 509 saß in der Tür­öff­nung
von Block 22. Die Ba­ra­cke war wie­der frei für ihn, seit Hand­ke von Le­wins­ky
ge­tö­tet wor­den war. Er hielt die Re­vol­ver und die Mu­ni­ti­on un­ter sei­ner Ja­cke
ver­bor­gen. Er fürch­te­te, daß sie bei star­kem Re­gen in dem Loch un­ter dem Bett
naß und un­brauch­bar wer­den könn­ten.
    Aber es reg­ne­te we­nig in die­ser Nacht. Das Ge­wit­ter zog und zog, es teil­te
sich, und lan­ge Zeit wa­ren es meh­re­re, die sich Blit­ze von Ho­ri­zont zu Ho­ri­zont
zu­war­fen wie Schwer­ter. Zwei Wo­chen, dach­te 509 und sah die Land­schaft jen­seits
des Sta­chel­drah­tes auf­flam­men und er­lö­schen. Sie schi­en ihm ei­ner an­de­ren Welt
zu glei­chen, die un­merk­lich nä­her und nä­her ge­kom­men war in der letz­ten Zeit,
lang­sam her­an­ge­wach­sen aus ei­nem Nie­mands­land der Hoff­nungs­lo­sig­keit, und nun
schon dicht vor den Sta­cheldräh­ten la­gernd, war­tend mit dem Ge­ruch von Re­gen
und Fel­dern, von Zer­stö­rung und Brand, aber auch von Wach­sen und Wäl­dern und
Grün. Er fühl­te, wie die Blit­ze durch ihn hin­durch­gin­gen und sie er­hell­ten und
wie gleich­zei­tig ei­ne ver­lo­re­ne Ver­gan­gen­heit auf­däm­mer­te, fahl, ent­fernt, fast
un­ver­ständ­lich und un­er­reich­bar. Er frös­tel­te in der war­men Nacht. Er war nicht
so si­cher, wie er sich Ber­ger ge­gen­über ge­zeigt hat­te. Er konn­te sich er­in­nern,
und es schi­en ihm viel, und es be­weg­te ihn, aber ob es ge­nug war nach den
Jah­ren hier, wuß­te er nicht. Zu­viel Tod war zwi­schen frü­her und jetzt. Er wuß­te
nur, daß Le­ben be­deu­te­te, aus dem La­ger zu ent­kom­men, aber gleich da­nach wur­de
al­les un­ge­wiß und rie­sig und schwan­kend, und er konn­te nicht weit dar­über
hin­aus­se­hen.
    Le­wins­ky konn­te es, aber er dach­te als Par­tei­mit­glied. Die Par­tei wür­de ihn
auf­fan­gen, und er wür­de in ihr sein, das ge­nüg­te ihm.
    Was konn­te es dann sein? dach­te 509, was war es, das rief, au­ßer dem pri­mi­ti­ven
Le­bens­wunsch? Ra­che? Mit Ra­che al­lein war we­nig ge­tan. Ra­che ge­hör­te zu dem
an­de­ren, dem fins­te­ren Teil, der er­le­digt wer­den muß­te, doch was kam da­nach? Er
spür­te ein paar war­me Re­gen­trop­fen auf sei­nem Ge­sicht, wie Trä­nen von
nir­gend­wo­her.
    Wer hat­te noch Trä­nen? Sie wa­ren aus­ge­brannt, ver­trock­net seit vie­len Jah­ren.
    Das stum­me Rei­ßen manch­mal, das We­ni­ger­wer­den von et­was, das schon fast als
Nichts vor­her er­schie­nen war – das war das ein­zi­ge, was noch zeig­te, daß im­mer
noch et­was ver­lo­ren wer­den konn­te. Ein Ther­mo­me­ter, das schon längst den
tiefs­ten Punkt des Ge­fühls an­zeig­te – und daß es käl­ter wur­de, sah man nur noch
dar­an, daß manch­mal ein er­fro­re­nes Glied, ein Fin­ger, ein Fuß ab­fiel, bei­na­he
oh­ne Schmer­zen.
    Die Blit­ze folg­ten sich schnel­ler, und un­ter lang rol­len­dem Don­ner lag der
Hü­gel ge­gen­über sehr klar im zu­cken­den, schat­ten­lo­sen Licht – das fer­ne, wei­ße
Haus mit dem Gar­ten.
    Bu­cher, dach­te 509. Bu­cher hat­te noch et­was. Er war jung, und mit ihm war Ruth.
Je­mand, der mit ihm hin­aus­ge­hen wür­de.
    Aber wür­de es hal­ten? Doch wer frag­te da­nach? Wer woll­te schon Ga­ran­ti­en? Und
wer konn­te sie ge­ben?
    509 lehn­te sich zu­rück. Was den­ke ich für Un­sinn? dach­te er.
    Ber­ger muß mich an­ge­steckt ha­ben. Wir sind nur mü­de. Er at­me­te lang­sam und
glaub­te durch den Ge­stank des Plat­zes und der Ba­ra­cke wie­der den Früh­ling und
das Wach­sen zu rie­chen.
    Das kam wie­der, je­des Jahr, mit Schwal­ben und Blü­ten, gleich­gül­tig ge­gen Krieg
und Tod und Trau­er und Hoff­nung. Es kam. Es war da. Das war ge­nug.
    Er zog die Tür zu und kroch zu sei­ner Ecke. Es blitz­te die gan­ze Nacht wei­ter,
das geis­ter­haf­te Licht fiel durch die zer­bro­che­nen Fens­ter, und die Ba­ra­cke
schi­en ein Schiff zu sein, das laut­los auf ei­nem un­ter­ir­di­schen Strom
da­hing­litt, an­ge­füllt mit To­ten, die durch ei­ne dunkle Ma­gie noch at­me­ten – und
dar­un­ter ei­ni­ge, die sich nicht ver­lo­ren

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