E.M. Remarque
hier war es einfach. Draußen mußte fast jeder
für sich durchstehen; hier gab einer dem anderen Kraft; ein Resultat, das die
Nazis nicht vorgesehen haben.« Der Mann lachte. Es war ein kurzes, freudloses
Lachen.
»Abgesehen von denen, die getötet worden sind«, sagte Berger. »Und denen, die
starben.«
»Abgesehen von denen, natürlich. Aber wir haben Leute übrigbehalten. Jeder
einzelne davon ist hundert andere wert.«
Es muß Werner sein, dachte 509; er konnte jetzt den schattenhaften Asketenkopf
im Dunkeln sehen. Er analysiert bereits wieder. Er organisiert. Er hält Reden;
er ist der Fanatiker und Theoretiker seiner Partei geblieben.
»Die Lager müssen die Zellen des Wiederaufbaus werden«, sagte die leise, klare
Stimme. »Drei Punkte sind da zunächst die wichtigsten. Der erste ist: passiver
und im äußersten Falle aktiver Widerstand gegen die SS, solange sie im Lager
ist. Der zweite: die Verhütung von Panik und Exzessen bei der Übernahme des
Lagers. Wir müssen ein Beispiel dafür sein, daß wir Disziplin haben und uns von
Rache nicht leiten lassen. Ordentliche Gerichte werden dafür später ...«
Der Mann hielt inne. 509 war aufgestanden und kam auf die Gruppe zu. Sie
bestand aus Lewinsky, Goldstein, Berger und dem Fremden. »Werner ...« , sagte 509.
Der Mann starrte ins Dunkel. »Wer bist du?«
Er richtete sich auf und kam heran. »Ich dachte, du wärest tot«, sagte 509.
Werner blickte ihm dicht ins Gesicht. »Koller«, sagte 509.
»Koller! Du lebst noch? Und ich dachte, du wärest längst tot.«
»Das bin ich auch. Offiziell.«
»Er ist 509«, sagte Lewinsky.
»Du bist also 509! Das macht die Sache einfacher. Ich bin auch offiziell tot.«
Beide starrten sich durch die Dunkelheit an. Es war keine neue Situation.
Mancher im Lager hatte schon jemand wiedergefunden, den er tot geglaubt hatte.
Aber 509 und Werner kannten sich noch aus der Zeit vor dem Lager. Sie waren
Freunde gewesen; dann hatten ihre politischen Ansichten sie allmählich
auseinandergetrieben.
»Bleibst du jetzt hier?« fragte 509.
»Ja. Für ein paar Tage.«
»Die SS ist beim Durchkämmen der letzten Buchstaben des Alphabets«, sagte
Lewinsky.
»Sie haben Vogel erwischt. Er lief jemand in die Hände, der ihn kannte. Einem
verdammten Unterscharführer.«
»Ich werde euch nicht zur Last fallen«, erklärte Werner. »Ich sorge für meine
eigene Verpflegung.«
»Sicher«, sagte 509 mit kaum merkbarer Ironie. »Das hätte ich auch nicht anders
von dir erwartet.«
»Münzer besorgt morgen Brot. Lebenthal kann es bei ihm abholen. Er besorgt mehr
als nur für mich. Auch etwas für eure Gruppe.«
»Ich weiß«, erwiderte 509. »Ich weiß, Werner, daß du nichts umsonst nimmst.
Bleibst du in 22? Wir können dich auch in 20 unterbringen.«
»Ich kann in 22 bleiben. Du jetzt doch auch. Handke ist ja nicht mehr da.«
Niemand von den anderen spürte, daß zwischen den beiden etwas wie ein Duell in
Worten vor sich ging. Wie kindisch wir sind, dachte 509. Vor einer Ewigkeit
sind wir politische Gegner gewesen – und immer noch will keiner dem anderen
etwas schuldig bleiben. Ich fühle eine idiotische Genugtuung darüber, daß
Werner bei uns Schutz sucht; und er deutet mir an, daß ich ohne seine Gruppe
vielleicht von Handke erledigt worden wäre.
»Ich habe gehört, was du vorhin erklärt hast«, sagte er. »Es stimmt. Was können
wir tun?«
Sie saßen noch draußen. Werner, Lewinsky und Goldstein schliefen in der
Baracke.
Lebenthal hatte sie in zwei Stunden zu wecken. Dann sollte gewechselt werden.
Die Nacht war schwül geworden. Berger trug trotzdem die warme Husarenattila;
509 hatte darauf bestanden.
»Wer ist der Neue?« fragte Bucher. »Ein Bonze?«
»Er war einer, bevor die Nazis
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