E.M. Remarque
kamen. Nicht allzu groß. Mittel. Ein
Provinzbonze. Tüchtig. Kommunist. Fanatiker ohne Privatleben und ohne Humor.
Jetzt ist er einer der Untergrundführer im Lager.«
»Woher kennst du ihn?«
509 dachte nach. »Vor 1933 war ich Redakteur an einer Zeitung. Wir haben oft
diskutiert. Und ich habe seine Partei oft angegriffen. Seine Partei und die
Nazis. Wir waren gegen beide.«
»Und wofür wart ihr?«
»Für etwas, das jetzt ziemlich pompös und lächerlich klingt. Für
Menschlichkeit, Toleranz und das Recht des einzelnen auf eine eigene Meinung.
Komisch, was?«
»Nein«, sagte Ahasver und hustete. »Was gibt es sonst?«
»Rache«, sagte Meyerhof plötzlich. »Rache gibt es noch! Rache für dieses hier!
Rache für jeden einzelnen Toten! Rache für alles, was getan worden ist.«
Alle sahen überrascht auf. Meyerhofs Gesicht war verzerrt. Er hatte die Fäuste
geballt und schlug jedes mal, wenn er das Wort Rache aussprach, auf den Boden.
»Was ist los mit dir?« fragte Sulzbacher.
»Was ist los mit euch?« fragte Meyerhof zurück.
»Er ist verrückt«, sagte Lebenthal. »Er ist gesund geworden, und das hat ihm
meschugge gemacht. Sechs Jahre ist er ein ängstlicher, mieser Bocher gewesen
der sich nicht traute, den Schnabel aufzumachen – dann hat ein Wunder ihn vor
dem Schornstein gerettet, und jetzt ist er Samson Meyerhof.«
»Ich will keine Rache«, flüsterte Rosen. »Ich will nur hier heraus!«
»Was? Und die ganze SS soll davonkommen, ohne daß abgerechnet wird?«
»Es ist mir egal! Ich will nur heraus!« Rosen preßte verzweifelt die Hände
zusammen und flüsterte so intensiv, als hinge alles davon ab: »Ich will nichts
weiter als heraus! Heraus hier!«
Meyerhof starrte ihn an. »Weißt du, was du bist? Du bist ...«
»Sei ruhig, Meyerhof!« Berger hatte sich aufgesetzt. »Wir wollen nicht wissen,
was wir sind. Wir alle sind hier nicht, was wir waren und was wir sein möchten.
Was wir wirklich noch sind, wird sich später zeigen. Wer weiß das jetzt? Jetzt
können wir nur warten und hoffen und meinetwegen beten.«
Er zog die Husarenjacke um sich und legte sich wieder zurück. »Rache«, sagte
Ahasver nach einiger Zeit nachdenklich. »Das würde viel Rache werden müssen.
Und Rache zieht neue Rache nach sich – was nützt das?«
Der Horizont flammte auf. »Was war das?« fragte Bucher.
Ein leises Grollen antwortete. »Es ist kein Bombardement«, erklärte Sulzbacher.
»Wieder ein Gewitter. Warm genug ist es dafür.«
»Wenn es regnet, werden wir die vom Arbeitslager wecken«, sagte Lebenthal. »Sie
können dann hier draußen liegen. Sie sind kräftiger als wir.« Er wandte sich zu
509. »Dein Freund, der Bonze, auch.«
Es blitzte wieder. »Hat einer von denen drinnen etwas von einem Abtransport
gehört?« fragte Sulzbacher.
»Nur Gerüchte. Das letzte war, daß tausend ausgesondert werden sollen.«
»O Gott!« Rosens Gesicht schimmerte blaß in der Dunkelheit. »Sie werden
natürlich uns nehmen. Die Schwächsten. Um uns loszuwerden.«
Er blickte 509 an. Alle dachten an den letzten Transport, den sie gesehen
hatten.
»Es ist ein Gerücht«, sagte 509. »Wir haben jetzt jeden Tag unzählige
Latrinenparolen gehört. Laßt uns ruhig sein, bis ein Befehl kommt. Dann können
wir immer noch sehen, was Lewinsky, Werner und die auf der Schreibstube für uns
tun können. Oder wir hier.«
Rosen schauderte. »Wie sie die damals an den Beinen unter den Betten
hervorgerissen haben ...«
Lebenthal sah ihn voll Verachtung an. »Hast du nie mehr gesehen in deinem Leben
als das?«
»Ja ...«
»Ich war einmal auf einem großen Schlachthof«, sagte Ahasver. »Ich war da für
das koschere Schlachten. In Chikago. Manchmal wußten die Tiere, was passieren
würde. Sie rochen das Blut. – Dann rannten sie so – wie die
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