E.M. Remarque
würde bei so etwas Quatsch reden?«
»Ich meine: täuscht ihr euch nicht?« fragte Goldstein.
»Nein«, sagte 509.
»Verstehst du was davon?«
»Ja.«
»Mein Gott.« Rosens Gesicht verzerrte sich. Er begann plötzlich zu schluchzen.
509 horchte weiter. »Wenn der Wind umschlägt, müssen wir es deutlicher hören.«
»Was glaubst du, wie weit weg sie noch sein können?« fragte Bucher.
»Ich weiß nicht genau. Fünfzig Kilometer. Sechzig. Nicht viel weiter.«
»Fünfzig Kilometer. Das ist nicht weit.«
»Nein, das ist nicht weit.«
»Sie müssen Tanks haben. Sie können das rasch machen. Wenn sie durchbrechen – wieviel Tage glaubst du, brauchen sie – vielleicht nur einen ...« , Bucher
stockte.
»Einen Tag?« wiederholte Lebenthal. »Was sagst du da? Einen Tag?« »Wenn sie
durchbrechen. Wir haben gestern noch nichts gehört. Heute ist es da. Morgen
kann es näher sein. Übermorgen – oder am Tag nach übermorgen ...«
»Rede nicht! Rede nicht so etwas! Mach keine Menschen verrückt!« schrie
Lebenthal plötzlich.
»Es ist möglich, Leo«, sagte 509.
»Nein!« Lebenthal schlug die Hände vor die Augen.
»Was meinst du, 509?« Bucher hatte ein totblasses, erregtes Gesicht.
»Übermorgen? Oder wieviel Tage?«
»Tage!« schrie Lebenthal und ließ die Hände sinken. »Wie können es jetzt nur
noch Tage sein?« murmelte er. »Jahre, Ewigkeiten, und jetzt redet ihr auf
einmal von Tagen, Tagen! Lügt nicht!« Er kam näher. »Lügt nicht!« flüsterte er.
»Ich bitte euch, lügt nicht!«
»Wer würde bei so etwas lügen?« 509 wendete sich um. Goldstein stand direkt
hinter ihm. Er lächelte.
»Ich höre es auch«, sagte er. Seine Augen wurden größer und größer und sehr
schwarz. Er lächelte und hob die Arme und die Beine in einer Gebärde, als wolle
er tanzen, lächelte nicht mehr und fiel vornüber.
»Er ist ohnmächtig geworden«, sagte Lebenthal. »Macht seine Jacke auf. Ich
werde Wasser holen. Es muß noch etwas in der Abflußrinne sein.«
Bucher, Sulzbacher, Rosen und 509 drehten Goldstein um.
»Sollen wir Berger holen?« fragte Bucher. »Kann er aufstehen?«
»Warte.« 509 beugte sich dicht über Goldstein. Er knöpfte die Jacke und den
Hosengurt auf. Als er sich aufrichtete, war Berger da. Lebenthal hatte ihm
Bescheid gesagt.
»Du solltest doch in deinem Bett bleiben«, sagte 509.
Berger kniete neben Goldstein nieder und horchte ihn ab. Es dauerte nicht
lange.
»Er ist tot«, erklärte er. »Herzschlag, wahrscheinlich. Es war immer zu
erwarten. Sie haben sein Herz völlig kaputt gemacht.«
»Er hat es noch gehört«, sagte Bucher. »Das ist die Hauptsache. Er hat es noch
gehört.«
»Was?«
509 legte den Arm um die schmalen Schultern Bergers. »Ephraim«, sagte er sanft.
»Ich glaube, es ist soweit.«
»Was?«
Berger sah auf. 509 merkte plötzlich, daß es ihm schwer würde, zu sprechen »Sie
...« , sagte er und stockte und zeigte dann mit der Hand zum Horizont. »Sie
kommen, Ephraim. Wir können sie schon hören.« Er blickte auf die Drahtpalisaden
und die MG-Türme, die im milchigen Weiß schwammen. »Sie sind da, Ephraim ...«
Mittags sprang der Wind um, und das Grollen wurde etwas deutlicher. Es war wie
ein ferner elektrischer Kontakt, der übersprang in Tausende von einzelnen
Herzen.
Die Baracken wurden unruhig. Nur einige Arbeitskommandos wurden ausgeschickt.
Überall waren Gesichter an die Fenster gepreßt. Wieder und wieder erschienen
dünne Gestalten vor den Türen und standen mit gereckten Köpfen da.
»Ist es näher gekommen?«
»Ja. Es scheint, daß es deutlicher geworden ist.«
In der Schuhabteilung arbeiteten alle schweigend. Die Kapos paßten auf, daß
nicht gesprochen wurde, die SS-Aufsicht war da. Die Messer trennten das Leder,
schnitten brüchige Stücke fort, und in vielen Händen fühlten sie sich anders
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