E.M. Remarque
»Quatsch!« sagte er. »Wir
haben den Lazarettkapo. Er wird es schieben. Du kommst durch.«
Scheller erwiderte etwas. »Halt die Schnauze!« rief Goldstein durch den Lärm
zurück: »Du kommst durch, fertig!« Er sah die graue, poröse Haut vor sich. »Sie
spritzen dich nicht ab!« heulte er als Text in die letzten Takte. »Wir haben
den Lazarettkapo! Er wird den Arzt bestechen!«
»Achtung!«
Der Gesang brach ab. Der Lagerkommandant war auf den Platz gekommen. Weber
meldete. »Ich habe den Brüdern eine kurze Predigt gehalten und ihnen eine
Stunde Mehrarbeit aufgeknallt.«
Neubauer war uninteressiert. Er schnüffelte in die Luft und blickte zum
Nachthimmel auf. »Glauben Sie, daß die Bande heute nacht wiederkommt?«
Weber grinste. »Nach den letzten Radiomeldungen haben wir neunzig Prozent
abgeschossen.«
Neubauer fand das nicht witzig. Hat auch nichts zu verlieren, dachte er.
Kleiner Dietz, Landsknecht, weiter nichts. »Lassen Sie die Leute abtreten, wenn
Sie fertig sind«, erklärte er plötzlich mürrisch.
»Wegtreten lassen!«
Die Blocks marschierten ab zu den Baracken. Sie nahmen ihre Verwundeten und
Toten mit. Die Toten mußten gemeldet und in die Listen eingetragen werden,
bevor sie im Krematorium abgeliefert wurden. Schellers Gesicht war spitz wie
das eines Zwerges, als Werner, Münzer und Goldstein ihn aufnahmen. Er sah aus,
als ob er die Nacht nicht überleben würde. Goldstein hatte während der Erdkunde
einen Schlag gegen die Nase bekommen. Sie fing an zu bluten, als er
marschierte. Das Blut schillerte im fahlen Licht dunkel auf seinem Kinn.
Sie bogen in die Straße ein, die zu ihrer Baracke führte. Der Wind, der von der
Stadt heraufwehte, war stärker geworden und traf sie voll, als sie um die Ecke
kamen.
Er brachte den Rauch der brennenden Stadt mit sich herauf.
Die Gesichter der Gefangenen veränderten sich. »Riecht ihr es auch?« fragte
Werner.
»Ja.« Münzer hob den Kopf.
Goldstein spürte den süßen Geschmack des Blutes auf seinen Lippen. Er spuckte
aus und versuchte den Rauch mit offenem Munde zu schmecken.
»Es riecht, als brenne es auch hier schon ...«
»Ja ...«
Sie konnten den Rauch jetzt sogar sehen. Er wehte vom Tal die Straßen hinauf
wie ein leichter, weißer Nebel und hing bald überall zwischen den Baracken. Es
schien Werner einen Augenblick sonderbar und fast unbegreiflich, daß der
Stacheldraht ihn nicht zurückhielt – als sei das Lager plötzlich nicht mehr so
abgeschlossen und unzugänglich, wie es vorher gewesen war.
Sie gingen die Straße hinab. Sie gingen durch den Rauch. Ihre Schritte wurden
fester, und ihre Schultern reckten sich. Sie trugen Scheller mit großer
Vorsicht. Goldstein beugte sich zu ihm nieder. »Riech es! So riech es doch
auch!« sagte er leise, verzweifelt und flehend in das spitze Gesicht hinein.
Aber Scheller war längst bewußtlos.
V
D ie Baracke war dunkel
und stank. Licht gab es abends schon lange nicht mehr.
»509«, flüsterte Berger. »Lohmann will mit dir sprechen.«
»Ist es soweit?«
»Noch nicht.« 509 tastete sich durch die schmalen Gänge zu dem Brettergestell,
neben dem sich das matte Viereck des Fensters abhob. »Lohmann?«
Etwas raschelte. »Ist Berger auch da?« fragte Lohmann.
»Nein.«
»Hol ihn.«
»Wozu?«
»Hol ihn!« 509 tastete sich zurück. Flüche folgten ihm. Er trat auf Körper, die
in den Gängen lagen. Jemand biß ihm in die Wade.
Er schlug auf den unbekannten Kopf, bis die Zähne sich lösten.
Nach einigen Minuten kam er mit Berger wieder. »Da sind wir. Was willst du
nun?«
»Hier!« Lohmann streckte seinen Arm aus.
»Was?« fragte 509.
»Halte deine Hand unter meine. Flach. Vorsichtig.« 509 fühlte die dünne Faust
Lohmanns. Sie war trocken wie Eidechsenhaut. Langsam öffnete sie sich. Etwas
fiel in die Hand von 509,
Weitere Kostenlose Bücher