E.M. Remarque
legten sie
neben die Verwundeten.
Das Lager stand still. Weber trat vor. »Was ihr da soeben gemacht habt, ist in
eurem eigenen Interesse geschehen. Ihr habt gelernt, wie man bei Luftangriffen
Deckung nimmt.«
Ein paar SS-Leute kicherten. Weber warf einen Blick zu ihnen hinüber und fuhr
fort: »Ihr habt heute am eigenen Leibe erfahren, mit welch einem unmenschlichen
Feinde wir es zu tun haben. Deutschland, das immer nur Frieden wollte, ist in
brutaler Weise angefallen worden. Der Feind, der an der Front überall
geschlagen worden ist, greift in seiner Verzweiflung zu einem letzten Mittel:
er bombardiert gegen jedes Völkerrecht in feigster Weise offene, friedliche
deutsche Städte. Er zerstört Kirchen und Hospitäler. Er mordet wehrlose Frauen
und Kinder. Es war nicht anders von Untermenschen und Bestien zu erwarten. Wir
werden die Antwort nicht schuldig bleiben. Das Lagerkommando verfügt ab morgen
vermehrte Arbeitsleistung. Die Kommandos rücken eine Stunde früher aus, um
aufzuräumen. Sonntags gibt es bis auf weiteres keine Freizeit mehr. Juden
erhalten zwei Tage kein Brot. Bedankt euch bei den feindlichen Mordbrennern
dafür.«
Weber schwieg. Das Lager rührte sich nicht. Man hörte den Berg hinauf das hohe
Summen eines starken Wagens, der rasch näher kam. Es war der Mercedes
Neubauers.
»Singen!« kommandierte Weber. »Deutschland, Deutschland über alles!«
Die Blocks begannen nicht sofort. Sie waren überrascht. In den letzten Monaten
war nicht mehr oft befohlen worden zu singen – und wenn, dann waren es immer
Volkslieder gewesen.
Sie wurden meistens angeordnet, wenn die Prügelstrafen vollzogen wurden.
Während die Gemarterten schrieen, hatten die übrigen Sträflinge dazu lyrische
Strophen zu singen. Die alte, frühere Nationalhymne aus der Vornazizeit aber
war seit Jahren nicht mehr befohlen worden.
»Los, ihre Schweine!«
In Block 13 begann Münzer zu singen. Die anderen fielen ein.
Wer den Text nicht mehr kannte, markierte. Die Hauptsache war, daß alle Münder
sich bewegten.
»Wozu?« flüsterte Münzer nach einer Weile, ohne den Kopf zu bewegen, zu seinem
Nebenmann Werner hinüber, während er scheinbar weitersang.
»Was?«
Die Melodie wurde zu einem dünnen Krächzen. Sie war nicht tief genug angefangen
worden, und die Stimmen konnten jetzt die hohen, jubilierenden Noten der
Schlußzeilen nicht erreichen und brachen ab. Die Häftlinge hatten auch nicht
mehr viel Atem.
»Was ist das für ein saumäßiges Gebell?« brüllte der zweite Lagerführer. »Noch
einmal von vorn! Wenn's diesmal nicht klappt, bleibt ihr die ganze Nacht hier!«
Die Häftlinge begannen tiefer. Das Lied ging jetzt besser.
»Was?« wiederholte Werner.
»Wozu gerade Deutschland, Deutschland über alles ...?«
Werner kniff die Augen zusammen. »Trauen vielleicht – ihren eigenen Naziliedern
nicht mehr ganz so – nach heute ...« , sang er.
Die Gefangenen starrten geradeaus. Werner spürte eine sonderbare Spannung in
sich aufsteigen. Er hatte auf einmal das Gefühl, daß nicht nur er allein sie
spüre – als spüre auch Münzer sie, als spüre Goldstein am Boden sie, als
spürten viele andere sie und als spüre sie sogar die SS. Das Lied klang
plötzlich nicht mehr so, wie die Häftlinge sonst sangen. Es war lauter und fast
herausfordernd ironisch geworden, und der Text hatte nichts mehr damit zu tun.
Hoffentlich merkt Weber es nicht, dachte er, während er auf den Lagerführer
blickte – sonst gibt es noch mehr Tote, als bereits da liegen.
Goldsteins Gesicht am Boden war dicht vor dem Gesicht Schellers. Schellers
Lippen bewegten sich. Goldstein konnte nicht verstehen, was er sagte; aber er
sah die halboffenen Augen und ahnte, was es war.
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