E.M. Remarque
retten gewesen wäre.
Aber er war nicht zu retten. Deshalb redeten sie über ihn wie über einen Stein.
Die Jahre im Lager hatten sie dazu gebracht, sachlich zu denken.
509 hockte im Schatten der Latrine. Es war ein guter Platz; niemand achtete
hier auf ihn. Das Kleine Lager hatte für alle Baracken zusammen nur eine
gemeinsame Massenlatrine, die an der Grenze der beiden Lager errichtet war und
zu der ein endloser Zug von Skeletten ständig stöhnend von den Baracken hinüber
und zurück schuffelte.
Fast alle hatten Durchfall oder Schlimmeres, und viele lagen zusammengebrochen
umher und warteten, bis sie wieder Kraft genug hatten, um weiter zu stolpern.
Zu beiden Seiten der Latrine lief der Stacheldrahtzaun entlang, der das Kleine
Lager vom Arbeitslager trennte.
509 hockte so, daß er die Pforte, die in den Stacheldraht geschnitten war,
beobachten konnte. Sie war da für die SS-Blockführer, die Blockältesten, die
Essenholer, die Leichenträger und die Leichenwagen. Von Baracke 22 durfte nur
Berger sie benutzen, wenn er zum Krematorium ging. Für alle anderen war sie
streng verboten. Der Pole Silber hatte sie die Krepierpforte genannt, weil die
Gefangenen, die ins Kleine Lager überwiesen wurden, nur als Leichen durch sie
zurückkamen. Jeder Posten durfte schießen, wenn ein Skelett versuchen sollte, ins
Arbeitslager zu gelangen. Fast niemand versuchte es. Auch vom Arbeitslager kam
außer denen, die Dienst hatten, nie jemand herüber. Das Kleine Lager war nicht
nur unter einer losen Quarantäne; es war auch sonst von den übrigen Gefangenen
aufgegeben worden und wurde lediglich als eine Art von Friedhof betrachtet, auf
dem die Toten noch kurze Zeit umherwankten.
509 konnte durch den Stacheldraht einen Teil der Straßen des Arbeitslagers
sehen.
Sie wimmelte von Gefangenen, die den Rest ihrer Freizeit ausnutzten. Er sah,
wie sie miteinander sprachen, wie sie in Gruppen zusammenstanden und die
Straßen entlanggingen – und obschon es nur ein anderer Teil des
Konzentrationslagers war, erschien es ihm, als sei er durch einen
unüberbrückbaren Abgrund von ihnen getrennt und als sei das drüben fast so
etwas wie eine verlorene Heimat, in der immerhin noch Leben und Gemeinschaft
existierten. Er hörte hinter sich das weiche Schlurfen der Häftlinge, die zur
Latrine wankten, und er brauchte sich nicht umzublicken, um ihre toten Augen zu
sehen.
Sie sprachen kaum noch – sie stöhnten höchstens oder zankten mit müden Stimmen;
sie dachten nicht mehr. Der Lagerwitz nannte sie Muselmänner, weil sie völlig
in ihr Schicksal ergeben waren. Sie bewegten sich wie Automaten und hatten
keinen eigenen Willen mehr; alles war in ihnen ausgelöscht, außer ein paar
körperlichen Funktionen. Sie waren lebendige Tote und starben wie Fliegen im
Frost. Das Kleine Lager war voll von ihnen. Sie waren gebrochen und verloren,
und nichts konnte sie retten, nicht einmal die Freiheit 509 spürte die Kühle
der Nacht tief in den Knochen.
Das Murmeln und Stöhnen hinter ihm war wie eine graue Flut, in der man
ertrinken konnte. Es war die Lockung zur Selbstaufgabe – die Lockung, gegen die
die Veteranen verzweifelt kämpften. 509 bewegte sich unwillkürlich und drehte
den Kopf, um zu fühlen, daß er noch lebte und einen eigenen Willen hatte. Dann
hörte er das Abpfeifen im Arbeitslager. Die Baracken dort hatten eigene
Latrinen und wurden nachts abgeschlossen. Die Gruppen auf den Straßen lösten
sich auf. Die Leute verschwanden.
In kaum einer Minute war drüben alles leer, und nur noch der trostlose Zug der
Schatten im Kleinen Lager war da – vergessen von den Kameraden jenseits des
Stacheldrahtes; abgeschrieben,
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