E.M. Remarque
klein und schwer. »Hast du es?«
»Ja. Was ist es? Ist es ...«
»Ja«, flüsterte Lohmann. »Mein Zahn.«
»Was?« Berger schob sich näher. »Wer hat das getan?«
Lohmann begann zu kichern. Es war ein fast lautloses, gespenstisches Kichern.
»Ich.«
»Du? Wie?«
Sie fühlten die Befriedigung des Sterbenden. Er schien kindisch stolz und tief
beruhigt.
»Nagel. Zwei Stunden. Kleiner Eisennagel. Habe ihn gefunden und den Zahn damit
losgebohrt.«
»Wo ist der Nagel?«
Lohmann griff neben sich und gab ihn Berger. Berger hielt ihn gegen das Fenster
und befühlte ihn dann. »Dreck und Rost. Hat es geblutet?«
Lohmann kicherte wieder. »Berger«, sagte er, »ich kann eine Blutvergiftung
riskieren.«
»Warte.« Berger suchte in seiner Tasche. »Hat jemand ein Streichholz?«
Streichhölzer waren kostbar. »Ich habe keins«, erwiderte 509.
»Hier«, sagte jemand aus dem mittleren Bett.
Berger rieb die Zündfläche an. Das Streichholz flammte auf.
Berger und 509 hatten die Augen geschlossen gehalten, um nicht geblendet zu
werden. Sie gewannen so einige Sekunden zum Sehen. »Mach den Mund auf«, sagte
Berger.
Lohmann starrte ihn an. »Sei nicht lächerlich. Verkauft das Gold.«
»Mach den Mund auf.«
Über Lohmanns Gesicht huschte etwas, das als Lächeln gemeint sein konnte. »Laß
mich in Ruhe. Gut, euch beide noch einmal bei Licht gesehen zu haben.«
»Ich werde dir Jod darüber pinseln. Ich hole die Flasche.«
Berger gab 509 das Streichholz und tastete sich zu seinem Bett hinüber. »Licht
aus!« krächzte jemand.
»Quatsch nicht!« antwortete der Mann, der das Streichholz gegeben hatte.
»Licht aus!« krächzte die andere Stimme wieder. »Sollen die Posten uns
zusammenschießen?« 509 stand so, daß sein gebückter Körper sich zwischen der
Wand und dem Streichholz befand. Der Mann im mittleren Bett hielt seine Decke
gegen das Fenster, und 509 deckte die kleine Flamme seitlich mit seiner Jacke
ab. Lohmanns Augen waren sehr klar. Sie waren zu klar. 509 blickte auf das
Stück Streichholz, das noch nicht verbrannt war, und dann auf Lohmann, und er
dachte, daß er Lohmann sieben Jahre kannte, und er wußte, daß dieses das letztemal
sein würde, daß er ihn lebend sah. Er hatte zu viele solche Gesichter gesehen,
um das nicht zu wissen.
Er fühlte die Hitze der Flamme an seinen Fingern, aber er hielt sie, bis er
nicht mehr konnte. Er hörte Berger zurückkommen. Dann war die Dunkelheit
plötzlich da, als sei er blind geworden. »Hast du noch ein Streichholz?« fragte
er den Mann im mittleren Bett.
»Hier.« Der Mann gab ihm eins. »Das letzte.«
Das letzte, dachte 509. Fünfzehn Sekunden Licht. Fünfzehn Sekunden für die
fünfundvierzig Jahre, die noch Lohmann hießen. Die letzten.
Der kleine flackernde Kreis. »Licht aus, verdammt! Haut ihm das Licht aus der
Hand!«
»Idiot! Kein Aas kann was sehen!« 509 hielt das Streichholz niedriger. Berger
stand neben ihm, die Flasche mit Jod in der Hand. »Mach den Mund ...«
Er brach ab. Er sah Lohmann jetzt ebenfalls deutlich. Es war unsinnig gewesen,
das Jod zu holen. Er hatte es auch nur gemacht, um irgend etwas zu tun. Langsam
steckte er die Flasche in die Tasche. Lohmann schaute ihn ruhig an, ohne mit
den Augenlidern zu blinken. 509 blickte weg. Er öffnete die Hand und sah den
kleinen Klumpen Gold darin schimmern.
Dann sah er wieder auf Lohmann. Die Flamme sengte seine Finger. Ein Schatten
von der Seite schlug nach seinem Arm. Das Licht erlosch.
»Gute Nacht, Lohmann«, sagte 509.
»Ich komme nachher noch einmal«, sagte Berger.
»Laßt nur«, flüsterte Lohmann. »Dies jetzt – ist einfach ...«
»Vielleicht finden wir noch ein paar Streichhölzer.«
Lohmann erwiderte nichts mehr.
509 fühlte die Goldkrone hart und schwer in seiner Hand.
»Komm heraus«, flüsterte er Berger zu. »Wir besprechen das besser draußen.
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