E.M. Remarque
und trat ihm gegen die Rippen. Der Tritt
sah viel härter aus, als er war. Der Blockälteste bremste ihn im letzten
Moment. Er trat noch einmal. Er vermied so, daß der Scharführer es tat.
Goldstein rührte sich nicht. Gegen sein Gesicht schlug das Blut Schellers.
»Los, los! Laßt ihn liegen!« Der Blockführer ging weiter. »Verdammt, wann
werden wir hier fertig?«
Der Blockälteste folgte ihm. Goldstein wartete eine Sekunde; dann packte er das
Band um Schellers Bein, riß es zusammen, knotete es und drehte den Holzknebel,
der sich vorher gelöst hatte, wieder fest hinein. Das Blut hörte auf zu
sprudeln. Es sickerte nur noch. Vorsichtig nahm Goldstein die Hände weg. Der
Verband blieb fest.
Der Aufruf war beendet. Man hatte sich geeinigt, daß dreiviertel eines Russen
und die obere Hälfte des Sträflings Sibolski aus Baracke 5 fehlten. Es stimmte
nicht ganz.
Von Sibolski waren die Arme da. Sie befanden sich allerdings im Besitz von
Baracke 17, die sie als die Reste Josef Binswangers ausgab, von dem nichts
wiedergefunden worden war. Dafür hatten zwei Mann von Baracke 5 die untere
Hälfte des Russen gestohlen, die dort als Sibolski ausgegeben wurde, da Beine
schwer zu unterscheiden waren. Zum Glück waren außerdem noch ein paar überzählige
Gliederstücke da, die auf die eineinviertel Fehlenden angerechnet werden
konnten. Damit war klar, daß keiner der Häftlinge im Wirrwarr des Bombardements
geflüchtet war. Trotzdem wäre es möglich gewesen, daß alle bis zum Morgen auf
dem Appellplatz hätten stehen müssen, um dann im Kupferwerk weiter nach den
Resten zu suchen – das Lager hatte ein paar Wochen vorher einmal zwei Tage
gestanden, bis jemand gefunden worden war, der im Schweinestall Selbstmord
verübt hatte.
Weber saß ruhig auf seinem Stuhl, das Kinn immer noch auf die Hände gestützt.
Er hatte sich während der ganzen Zeit kaum gerührt. Nach der Meldung erhob er
sich langsam und streckte sich. »Die Leute haben lange genug gestanden. Sie
brauchen Bewegung. Erdkunde üben!«
Befehle hallten über den Platz: »Hände hinter dem Kopf verschränken! Knie
beugt! Froschhüpfen! Vorwärts – hüpft!«
Die langen Reihen gehorchten. Sie hüpften langsam mit gebeugten Knien vorwärts.
Der Mond war inzwischen weiter aufgestiegen und heller geworden. Er beleuchtete
jetzt schon einen Teil des Appellplatzes. Der andere lag im Schatten, den die
Gebäude warfen. Die Umrisse des Krematoriums, des Tores und sogar des Galgens
zeichneten sich scharf auf dem Boden ab.
»Zurückhüpfen!«
Die Reihen hüpften aus dem Licht wieder in das Dunkel zurück. Leute fielen um.
SS-Mannschaften, Kapos und Blockälteste prügelten sie wieder hoch. Das Schreien
war kaum zu hören über dem Scharren der zahllosen Füße.
»Vorwärts! Zurück! Vorwärts! Zurück! Stillgestanden!«
Jetzt begann die eigentliche Erdkunde. Sie bestand darin, daß die Gefangenen
sich hinwerfen mußten, auf dem Boden kriechen, aufspringen, sich wieder
hinwerfen und weiterkriechen. Sie lernten auf diese Weise die Erde des
Tanzplatzes schmerzlich genau kennen. Nach kurzer Zeit war der Platz ein
Durcheinander von wimmelnden riesigen gestreiften Maden, die wenig Menschliches
an sich zu haben schienen. So gut sie konnten, schützten sie die Verwundeten;
aber in der Hast und Angst war es nicht immer möglich.
Nach einer Viertelstunde befahl Weber Halt. Die Viertelstunde hatte allerdings
Verwüstungen unter den erschöpften Häftlingen angerichtet. Überall lagen welche
herum, die nicht weiter konnten.
»In Blocks ausgerichtet antreten!«
Die Leute schleppten sich zurück. Sie holten die Zusammengebrochenen und
hielten die zwischen sich fest, die noch stehen konnten. Die anderen
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