E.M. Remarque
Namensaufruf feststellen, wer fehlt.«
Durch die Reihen der Gefangenen ging ein kaum merkliches Schwanken.
Namensaufruf bedeutete, daß man noch ein bis zwei Stunden stehen mußte, wenn
nicht länger – bei den Russen und Polen, die kein Deutsch verstanden, kamen
dauernd Irrtümer mit ihren Namen vor.
Der Aufruf begann. Stimmen flatterten auf; dann hörte man Schimpfen und
Schläge.
Die SS war gereizt und prügelte, weil sie ihre Freizeit verlor.
Die Kapos und Blockältesten prügelten aus Angst. Hier und da kippten Leute um,
und unter den Verwundeten breiteten sich langsam schwarze Blutlachen aus. Ihre
grauweißen Gesichter wurden spitzer und schimmerten tödlich in der tiefen
Dämmerung. Sie blickten ergeben zu ihren Kameraden hinauf, die mit den Händen
an der Hosennaht dastanden und den Verblutenden nicht helfen durften. Für
manche war dieser Wald von dreckigen Zebrabeinen das letzte, was sie von der
Welt sahen.
Der Mond kroch hinter dem Krematorium hoch. Die Luft war diesig, und er hatte
einen breiten Hof. Eine Zeitlang stand er genau hinter dem Schornstein, und
sein Licht schimmerte darüber hinweg, so daß es aussah, als würden Geister in
den Öfen verbrannt und kaltes Feuer schlüge heraus. Dann wurde er langsam mehr
und mehr sichtbar, und der stumpfe Schornstein wirkte jetzt wie ein
Minenwerfer, der eine rote Kugel senkrecht in den Himmel feuerte.
In der ersten Zehnerreihe von Block dreizehn stand der Gefangene Goldstein. Er
war der letzte am linken Flügel, und neben ihm lagen die Verwundeten und Toten
des Blocks. Einer der Verletzten war Goldsteins Freund Scheller. Er lag als
nächster neben ihm. Goldstein sah aus den Augenwinkeln, daß sich der schwarze
Fleck unter dem zerfetzten Bein Schellers plötzlich viel rascher als vorher
vergrößerte. Der dürftige Verband hatte sich gelöst, und Scheller verblutete.
Goldstein stieß seinen Nebenmann Münzer an; dann ließ er sich seitlich
umkippen, als sei er ohnmächtig geworden. Er richtete es so ein, daß er halb
über Scheller fiel. Was er machte, war gefährlich.
Der wütende SS-Blockführer umkreiste die Reihen wie ein bissiger Schäferhund.
Ein guter Tritt seiner schweren Stiefel gegen die Schläfe konnte Goldstein
erledigen. Die Gefangenen in der Nähe standen unbeweglich; aber alle
beobachteten, was vorging.
Der Blockführer befand sich gerade mit dem Blockältesten am anderen Ende der
Gruppe. Der Blockälteste meldete dort etwas. Er hatte Goldsteins Manöver
ebenfalls bemerkt und versuchte, den Scharführer für einige Augenblicke
festzuhalten.
Goldstein tastete unter sich nach dem Strick, mit dem Schellers Bein abgeschnürt
war. Er sah dicht vor seinen Augen das Blut und roch das rohe Fleisch. »Laß
doch«, flüsterte Scheller.
Goldstein fand den abgerutschten Knoten und löste ihn. Das Blut sprudelte
stärker.
»Sie spritzen mich ja doch ab«, flüsterte Scheller. »Mit dem Bein ...«
Das Bein hing nur noch an ein paar Sehnen und Hautfetzen.
Es hatte sich durch den Fall Goldsteins verschoben und lag jetzt schief und
sonderbar da, mit verdrehtem Fuß, als habe es ein drittes Gelenk. Goldsteins
Hände waren naß von Blut. Er zog den Knoten an, aber der Strick rutschte wieder
ab. Scheller zuckte. »Laß doch ...«
Goldstein mußte den Knoten wieder aufmachen. Er fühlte den zersplitterten
Knochen an den Fingern. Sein Magen kam hoch.
Er schluckte, suchte in dem glitschigen Fleisch, fand das Band wieder, schob es
höher und erstarrte. Münzer hatte ihn gegen den Fuß gestoßen. Es war eine
Warnung; der SS-Blockführer schnaufte heran. »Wieder so ein Schwein! Was ist
mit dem nun wieder los?«
»Umgefallen, Herr Scharführer.« Der Blockälteste war neben ihm. »Steh auf,
faules Aas!« schrie er Goldstein an
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