E.M. Remarque
isoliert, ein Rest zitternden Lebens im
Territorium sicheren Todes.
Lebenthal kam nicht durch das Tor. 509 sah ihn plötzlich schräg vor sich über
den Platz gehen. Er mußte irgendwo hinter der Latrine hereingekommen sein.
Niemand wußte, wie er sich durchschmuggelte; es würde 509 nicht gewundert
haben, wenn er dazu die Armbinde eines Vormannes oder sogar die eines Kapos
benutzt hätte.
»Leo!«
Lebenthal blieb stehen. »Was ist los? Vorsicht! Drüben ist noch SS. Komm hier
weg.«
Sie gingen zu den Baracken hinüber. »Hast du was erwischt?« fragte 509.
»Was?«
»Essen. Was sonst?«
Lebenthal hob die Schultern. »Essen! Was sonst«, wiederholte er irritiert. »Wie
stellst du dir das vor? Bin ich der Küchenkapo?«
»Nein.«
»Na also! Was willst du dann von mir?«
»Nichts. Ich habe nur gefragt, ob du was zu essen erwischt hast.«
Lebenthal blieb stehen. »Essen«, sagte er bitter. »Weißt du, daß die Juden zwei
Tage Brotentzug im ganzen Lager haben? Befehl von Weber.«
509 starrte ihn an. »Ist das wahr?«
»Nein. Ich habe es erfunden. Ich erfinde immer so was. Es ist witzig.«
»Mein Gott! Das wird Tote geben!«
»Ja. Haufen. Und du willst noch wissen, ob ich Essen erwischt habe ...«
»Sei ruhig, Leo. Setz dich hierher. Das ist eine verfluchte Geschichte. Gerade
jetzt! Jetzt, wo wir allen Fraß brauchen, den wir kriegen können!«
»So? Ich bin vielleicht wohl noch schuld, was?« Lebenthal begann zu zittern. Er
zitterte immer, wenn er sich aufregte, und er regte sich leicht auf; er war
sehr empfindlich. Das bedeutete bei ihm nicht mehr, als hätte ein anderer mit
den Fingern auf eine Tischplatte getrommelt. Es kam durch den ständigen Hunger.
Er vergrößerte und verkleinerte alle Emotionen.
Hysterie und Apathie waren Geschwister im Lager. »Ich habe getan, was ich
konnte«, zeterte Lebenthal leise mit hoher, sich überschlagender Stimme. »Ich
habe herangeschafft und riskiert und besorgt, und da kommst du und erklärst,
wir brauchen ...«
Seine Stimme versank plötzlich in ein mooriges, unverständliches Gurgeln. Es
war, als sei einer der Lautsprecher des Lagerradios außer Kontakt geraten.
Lebenthal fuhr mit den Händen auf dem Boden umher. Sein Gesicht sah jetzt nicht
mehr aus wie ein beleidigter Totenkopf; es war nur noch eine Stirn mit einer
Nase und Froschaugen und einem Haufen schlaffer Haut darunter, mit einem Loch
darin. Endlich fand er sein falsches Gebiß auf dem Boden wieder, wischte es an
seiner Jacke ab und schob es zurück in den Mund. Der Lautsprecher war aufs neue
angestellt, und die Stimme war wieder da, hoch und zeternd.
509 ließ ihn jammern, ohne zuzuhören. Lebenthal merkte es und hörte auf. »Wir
haben doch schon öfter Brotentzug gehabt«, sagte er schließlich lahm. »Und für
länger als zwei Tage. Was ist los mit dir, daß du heute so viel Theater
deswegen machst?« 509 sah ihn eine Weile an. Dann deutete er auf die Stadt und
die brennende Kirche.
»Was los ist? Das da, Leo ...«
»Was?«
»Das da unten. Wie war das doch damals im Alten Testament?«
»Was hast du mit dem Alten Testament zu schaffen?«
»Gab es da nicht so etwas unter Moses? Eine Feuersäule, die das Volk aus der
Knechtschaft führte?«
Lebenthal blinkte mit den Augen. »Eine Rauchwolke bei Tag und eine Feuersäule
bei Nacht«, sagte er, ohne zu jammern. »Meinst du das?«
»Ja. Und war nicht Gott darin?«
»Jehova.«
»Gut, Jehova. Und das da unten – weißt du, was das ist?« 509 wartete einen
Augenblick.
»Es ist etwas Ähnliches«, sagte er dann. »Es ist Hoffnung, Leo, Hoffnung für
uns! Verdammt, will das denn keiner von euch sehen?«
Lebenthal antwortete nicht. Er saß in sich geduckt und blickte auf die Stadt
hinunter.
509 ließ sich zurücksinken. Er hatte es endlich jetzt zum
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