E.M. Remarque
Atem.
»Hier, nimm dies – lest es –, wir haben es heute gekriegt ...«
Er steckte ein zusammengefaltetes Papier in Lebenthals Finger und glitt hinaus,
in den Schatten der Baracke. Lebenthal schloß die Tür. »Zucker«, sagte Ahasver.
»Laßt mich ein Stück anfassen. Nur anfassen, weiter nichts.«
»Ist da noch Wasser?« fragte Berger.
»Hier ...« Lebenthal reichte einen Napf hinüber.
Berger nahm zwei Stücke Zucker und löste sie auf. Dann kroch er zu 509 und
Bucher hinüber. »Trinkt das hier. Langsam. Jeder abwechselnd einen Schluck.«
»Wer ißt da?« fragte jemand vom mittleren Bett.
»Keiner. Wer soll schon essen?«
»Ich höre schlucken.«
»Du träumst, Ammers«, sagte Berger.
»Ich träume nicht! Ich will meinen Anteil. Ihr freßt ihn auf, da unten! Ich
will meinen Anteil!«
»Warte bis morgen.«
»Bis morgen habt ihr alles aufgefressen. Es geht immer so. Ich kriege jedes Mal
am wenigsten. Ich!« Ammers fing an zu schluchzen. Keiner kümmerte sich darum.
Er war seit einigen Tagen krank und glaubte immer, die anderen betrogen ihn.
Lebenthal tastete sich zu 509 hinüber. »Das mit dem Zucker vorhin«, flüsterte
er verlegen, »ich habe das nicht gefragt, um damit zu handeln. Ich wollte nur
noch mehr für euch besorgen.«
»Ja ...«
»Ich habe auch den Zahn noch. Ich habe ihn noch nicht verkauft. Ich habe
gewartet. Jetzt werde ich das Geschäft machen.«
»Gut, Leo. Was hat Lewinsky dir noch gegeben? An der Tür.«
»Ein Stück Papier. Es ist kein Geld.« Lebenthal fingerte es ab. »Fühlt sich an
wie ein Stück Zeitung.«
»Zeitung?«
»Es fühlt sich so an.«
»Was?« fragte Berger. »Du hast ein Stück Zeitung?«
»Sieh nach!« sagte 509.
Lebenthal kroch zur Tür und öffnete sie. »Stimmt. Es ist ein Zeitungsstück.
Abgerissen.«
»Kannst du es lesen?«
»Jetzt?«
»Wann sonst?« fragte Berger.
Lebenthal hob den Fetzen hoch. »Es ist nicht genug Licht.«
»Mach die Tür weiter auf. Kriech 'raus. Draußen ist Mond.«
Lebenthal öffnete die Tür und hockte sich draußen hin. Er hielt das abgerissene
Zeitungsstück in das Ungewisse, webende Licht. Er studierte es lange. »Ich
glaube, es ist ein Heeresbericht ...« , sagte er dann.
»Lies!« flüsterte 509. »So lies doch, Mensch!«
»Hat keiner ein Streichholz?« fragte Berger.
»Remagen ...« , sagte Lebenthal. »Am Rhein ...«
»Was?«
»Die Amerikaner sind bei Remagen – über den Rhein gegangen!«
»Was, Leo? Hast du richtig gelesen? Über den Rhein? Steht da nicht was anderes?
Ein französischer Fluß?«
»Nein – Rhein – bei Remagen – Amerikaner ...«
»Mach keinen Unsinn! Lies richtig! Lies um Gottes willen richtig, Leo!«
»Es stimmt«, sagte Lebenthal. »Es steht hier so. Ich sehe es jetzt deutlich.«
»Über den Rhein? Wie ist das möglich? Dann sind sie ja in Deutschland! So lies
doch weiter! Lies! Lies!«
Sie krächzten durcheinander. 509 spürte nicht, wie seine Lippen aufrissen.
Ȇber den Rhein! Aber wie denn? Mit Flugzeugen? Mit Booten? Wie? Mit
Fallschirmen? Lies, Leo!«
»Brücke«, buchstabierte Lebenthal. »Sie haben – eine Brücke gekreuzt – die
Brücke ist – unter schwerem deutschem Feuer ...«
»Eine Brücke?« fragte Berger ungläubig.
»Ja, eine Brücke – bei Remagen ...«
»Eine Brücke«, wiederholte 509. »Eine Brücke – über den Rhein? Dann muß die
Armee – lies weiter, Leo! Da muß noch mehr stehen!«
»Das Kleingedruckte kann ich nicht lesen.«
»Hat denn keiner ein Streichholz?« fragte Berger verzweifelt.
»Hier ...« , erwiderte jemand aus dem Dunkel. »Hier sind noch zwei.«
»Komm herein, Leo.«
Sie formten eine Gruppe neben der Tür. »Zucker«, jammerte Ammers. »Ich weiß,
ihr habt Zucker. Ich habe es gehört. Ich will meinen Anteil.«
»Gib dem verdammten Hund ein Stück, Berger«, flüsterte 509 ungeduldig.
»Nein.«
Berger suchte nach der Zündfläche.
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