E.M. Remarque
hatten
Wasser getrunken und waren, halb bewußtlos, wieder eingeschlafen. Dann fühlte
509 irgendwann aus langsam sich lösender Erstarrung etwas Warmes auf seiner
Hand.
Eine flüchtige, scheue Erinnerung. Weit weg. Wärme. Er öffnete die Augen.
Der Schäferhund leckte seine Hand. »Wasser«, flüsterte 509.
Berger hatte ihnen die aufgescheuerten Gelenke mit Jod bestrichen. Er sah auf, holte
die Dose mit Suppe und hielt sie 509 an den Mund. »Hier, trink.«
509 trank. »Was ist mit Bucher?« fragte er mühsam.
»Er liegt neben dir.«
509 wollte weiter fragen.
»Er lebt«, sagte Berger. »Ruh dich aus.«
Beim Appell mußten sie hinausgetragen werden. Man legte sie mit den Kranken,
die nicht mehr gehen konnten, auf den Boden vor der Baracke. Es war bereits
dunkel, und die Nacht war klar. Der Blockführer Bolte nahm den Appell ab. Er
betrachtete die Gesichter von 509 und Bucher, wie man zertretene Insekten
ansieht. »Die beiden sind tot«, sagte er. »Warum liegen sie hier bei den
Kranken?«
»Sie sind nicht tot, Herr Scharführer.«
»Noch nicht«, erklärte der Blockälteste Handke.
»Dann morgen. Die gehen durch den Schornstein. Darauf könnt ihr eure Köpfe wetten.«
Bolte ging rasch. Er hatte Geld in der Tasche und wollte eine Partie Karten
riskieren.
»Abtreten!« schrieen die Blockältesten. »Essenhohler 'raus!«
Die Veteranen trugen 509 und Bucher vorsichtig zurück.
Handke sah es und grinste.
»Die beiden sind wohl aus Porzellan, wie?«
Niemand antwortete ihm. Er stand noch eine Weile herum; dann ging er auch.
»Dieses Schwein!« knurrte Westhof und spuckte aus. »Dieses dreckige Schwein!«
Berger betrachtete ihn aufmerksam. Westhof hatte schon seit einiger Zeit Lagerkoller.
Er war unruhig, brütete herum, redete mit sich selbst und fing Streit an. »Sei
ruhig«, sagte Berger scharf. »Mach keinen Radau. Wir wissen alle, was mit
Handke los ist.« Westhof stierte ihn an. »Ein Gefangener wie wir. Und so ein
Schwein. Das ist es ...«
»Das weiß jeder. Es gibt Dutzende, die noch schlimmer sind. Macht verroht, das
solltest du längst gelernt haben. So, und jetzt hilf anpacken.«
Sie hatten für 509 und Bucher je ein Bett frei gemacht. Sechs Leute schliefen
dafür auf dem Boden. Einer davon war Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei.
Er half die beiden mit hineinbringen. »Der Scharführer versteht nichts«, sagte
er zu Berger.
»So?«
»Sie werden nicht durch den Schornstein gehen. Bestimmt nicht morgen. Man hätte
ruhig wetten können.«
Berger sah ihn an. Das kleine Gesicht war völlig sachlich. Durch den
Schornstein gehen war der Lagerausdruck für das Krematorium.
»Hör zu, Karel«, sagte Berger. »Mit SS-Leuten kann man nur wetten, wenn man
weiß, daß man verliert. Und auch dann besser nicht.«
»Sie werden morgen nicht durch den Schornstein gehen. Die beiden nicht. Die
dort drüben ja.« Karel zeigte auf drei Muselmänner, die auf dem Fußboden lagen.
Berger sah ihn wieder an. »Du hast recht«, sagte er.
Karel nickte, ohne Stolz. Er war Spezialist in diesen Dingen.
Am nächsten Abend konnten sie sprechen. Ihre Gesichter waren so mager, daß
nicht viel daran zu schwellen war. Sie waren blau und schwarz verfärbt, aber
die Augen waren frei, und die Lippen waren nur zerrissen.
»Bewegt sie nicht, wenn ihr sprecht«, sagte Berger.
Es war nicht schwierig. Sie hatten das in den Jahren im Lager gelernt. Jeder,
der längere Zeit da war, konnte sprechen, ohne einen Muskel zu verziehen. Nach
dem Essenholen klopfte es plötzlich an die Tür. Einen Augenblick preßten sich
alle Herzen zusammen, jeder fragte sich, ob sie doch noch kämen, die beiden zu
holen.
Es klopfte wieder, vorsichtig, kaum hörbar. »509! Bucher!« wisperte Ahasver.
»Tut, als ob ihr tot seid.«
»Mach auf, Leo«, flüsterte 509. »Das ist
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