E.M. Remarque
Lagers ist. Frische Luft. War ein
Fehler.«
Goldstein grinste mühsam über sein graues Gesicht.
»Du wirst dich erholen«, sagte Werner. »Laß dich ruhig über unsere Schultern
hängen. Wir können dich gut tragen.«
Der Himmel verlor den letzten Glanz und wurde fahler. Blaue Schatten stürzten
von den Hügeln herab. »Hört zu«, flüsterte Goldstein. »Steckt, was ihr bei euch
habt, in meine Sachen. Wenn sie untersuchen, werden sie euch untersuchen und
vielleicht die Bahren auch. Aber uns Schlappmacher werden sie nicht
kontrollieren. Wir sind einfach zusammengeklappt. Uns werden sie so
durchlassen.«
»Wenn sie untersuchen, werden sie alle untersuchen«, sagte Werner.
»Nein, nicht uns, die schlapp gemacht haben. Es sind noch ein paar mehr auf dem
Weg dazugekommen. Steckt die Sachen unter mein Hemd.«
Werner wechselte einen Blick mit Lewinsky. »Laß gut sein, Goldstein. Wir kommen
schon durch.«
»Nein, gebt sie mir.«
Die beiden antworteten nicht.
»Für mich ist es ziemlich egal, ob ich geschnappt werde. Für euch nicht.«
»Quatsch.«
»Es hat nichts mit Opferwillen und Großtuerei zu tun«, sagte Goldstein mit
einem verzerrten Lächeln. »Er ist nur praktischer. Ich mach sowieso nicht mehr
lange.«
»Wir werden das alles sehen«, erwiderte Werner. »Wir haben noch fast eine
Stunde Weg. Vor dem Lager gehst du wieder zurück in deine frühere Reihe. Wenn
etwas passiert, geben wir dir die Sachen. Du gibst sie sofort weiter zurück zu
Münzer. Zu Münzer, verstehst du?«
»Ja.«
Eine Frau auf einem Fahrrad kam vorbei. Sie war dick und trug eine Brille und
hatte einen Pappkarton vor sich auf der Lenkstange. Sie blickte zur Seite. Sie
wollte die Gefangenen nicht sehen.
Lewinsky sah auf und blickte dann schärfer nach vorn. »Hört zu«, sagte er. »Das
da hinten ist nicht das Baumkommando.«
Die schwarze Masse vor ihnen war näher gekommen. Sie holten sie nicht ein, sie
kam ihnen entgegen. Sie konnten jetzt auch sehen, daß es eine lange Reihe von
Menschen war, die nicht in regelmäßiger Kolonne marschierten.
»Neue Zugänge?« fragte jemand hinter Lewinsky. »Oder ist es ein Transport?«
»Nein. Sie haben keine SS bei sich. Und sie marschieren nicht in der Richtung
zum Lager. Das sind Zivilisten.«
»Zivilisten?«
»Das siehst du doch. Sie haben Hüte auf. Und Frauen sind dabei. Kinder auch.
Viele Kinder.«
Man konnte sie jetzt deutlich sehen. Die beiden Kolonnen näherten sich jetzt
rasch.
»Rechts heran!« schrie die SS. »Scharf rechts heran! In den Graben, die
äußerste Reihe rechts. Los!«
Die Aufseher liefen die Gefangenenkolonne entlang. »Rechts! Los, rechts heran!
Laßt die linke Hälfte der Straße frei. Wer ausbiegt, wird erschossen!«
»Das sind Ausgebombte«, sagte Werner plötzlich rasch und leise. »Es sind Leute
aus der Stadt. Das sind Flüchtlinge.«
»Flüchtlinge?«
»Flüchtlinge«, wiederholte Werner.
»Ich glaube, du hast recht!« Lewinsky kniff die Augen zu. »Das sind tatsächlich
Flüchtlinge. Aber diesmal deutsche Flüchtlinge!« Das Wort lief flüsternd die
Kolonne entlang. Flüchtlinge! Deutsche Flüchtlinge! Des refugiés allemands! Es
schien unerhört zu sein, aber es stimmte: Nachdem sie Jahre hindurch in Europa
gesiegt und Menschen vor sich hergetrieben hatten, mußten sie jetzt in ihrem
eigenen Lande flüchten.
Es waren Frauen und Kinder und ältere Männer. Sie trugen Pakete, Handtaschen
und Handkoffer. Einige hatten kleine Wagen, auf die sie ihr Gepäck geladen
hatten. Sie gingen unregelmäßig und verdrossen hintereinander her. Die beiden
Züge waren sich jetzt ganz nahe. Es wurde auf einmal sehr still. Man hörte nur
noch das Scharren der Füße auf der Landstraße. Und ohne daß ein Wort gesagt
worden wäre, begann die Kolonne der Gefangenen
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