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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Funke Leben
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sich zu ver­än­dern. Sie hat­te
sich nicht ein­mal durch Bli­cke ver­stän­digt; aber es war, als hät­te je­mand einen
laut­lo­sen Be­fehl über all die­se tod­mü­den, ab­ge­zehr­ten, halb­ver­hun­ger­ten Män­ner
hin­ge­schrie­en, als hät­te ein Fun­ke ihr Blut ent­zün­det, ihr Ge­hirn auf­ge­weckt
und ih­re Ner­ven und Mus­keln zu­sam­men­ge­ris­sen. Die stol­pern­de Ko­lon­ne be­gann zu
mar­schie­ren.
    Die Fü­ße ho­ben sich, die Köp­fe rich­te­ten sich auf, die Ge­sich­ter wur­den här­ter,
und in den Au­gen war Le­ben.
    »Laßt mich los«, sag­te Gold­stein.
    »Un­sinn!«
    »Laßt mich los! Nur, bis die da vor­bei sind!«
    Sie lie­ßen ihn los. Er tau­mel­te, biß die Zäh­ne auf­ein­an­der und fing sich.
Le­wins­ky und Wer­ner preß­ten ih­re Schul­tern ge­gen sei­ne, aber sie brauch­ten ihn
nicht zu hal­ten.
    Er ging, dicht zwi­schen sie ge­preßt, al­lein, den Kopf zu­rück­ge­wor­fen, laut at­mend,
aber er ging al­lein.
    Das Schuf­feln der Ge­fan­ge­nen war jetzt über­all in ei­ne Art von Gleicht­ritt
über­ge­gan­gen.
    Ei­ne Ab­tei­lung Bel­gier und Fran­zo­sen war da­bei und ei­ne klei­ne Grup­pe von
Po­len. Auch sie mar­schier­ten mit.
    Die Ko­lon­nen hat­ten ein­an­der er­reicht. Die Deut­schen wa­ren auf dem We­ge nach
um­lie­gen­den Dör­fern. Sie hat­ten kei­ne Zug­ver­bin­dun­gen, weil der Bahn­hof
zer­stört war, und muß­ten des­halb zu Fuß ge­hen. Ein paar Zi­vi­lis­ten mit
SA-Bin­den um den Arm di­ri­gier­ten den Zug. Die Frau­en wa­ren mü­de. Ein paar
Kin­der wein­ten. Die Män­ner starr­ten vor sich hin.
    »So sind wir aus War­schau ge­flüch­tet«, flüs­ter­te ein Po­le lei­se hin­ter
Le­wins­ky.
    »Und wir aus Lüt­tich«, er­wi­der­te ein Bel­gier.
    »Wir eben­so aus Pa­ris.«
    »Bei uns war es schlim­mer. Viel schlim­mer. Sie ha­ben uns an­ders ge­jagt.«
    Sie spür­ten kaum ein Ge­fühl von Re­van­che. Auch kei­nen Haß. Frau­en und Kin­der
wa­ren über­all die­sel­ben, und es wa­ren ge­wöhn­lich viel öf­ter die Un­schul­di­gen,
die von ei­nem Ver­häng­nis ge­trof­fen wur­den, als die Schul­di­gen. Un­ter die­ser mü­den
Mas­se wa­ren si­cher vie­le, die nichts be­wußt ge­wollt und nichts ge­tan hat­ten,
was ihr Schick­sal recht­fer­tig­te. Das war es auch nicht, was die Ge­fan­ge­nen
spür­ten. Es war et­was ganz an­de­res. Es hat­te nichts mit den ein­zel­nen zu tun;
es hat­te auch we­nig mit der Stadt zu schaf­fen; nicht ein­mal viel mit dem Lan­de
oder der Na­ti­on; es war eher das Ge­fühl ei­ner un­ge­heu­ren, un­per­sön­li­chen
Ge­rech­tig­keit, das in dem Au­gen­blick auf­sprang, als die bei­den Ko­lon­nen
ein­an­der pas­sier­ten. Ein Welt­fre­vel war ver­übt wor­den und fast ge­glückt; die
Ge­bo­te der Mensch­lich­keit wa­ren um­ge­sto­ßen und fast zer­tram­pelt wor­den; das
Ge­setz des Le­bens war be­spuckt, zer­peitscht und zer­schos­sen wor­den; Raub war
le­gal, Mord ver­dienst­voll, Ter­ror Ge­setz ge­wor­den – und jetzt, plötz­lich, in die­sem
atem­lo­sen Au­gen­blick, fühl­ten vier­hun­dert Op­fer der Will­kür hier, daß es ge­nug
war –, daß ei­ne Stim­me ge­spro­chen hat­te und daß das Pen­del zu­rück­schwang.
    Sie spür­ten, daß es nicht nur Län­der und Völ­ker wa­ren, die ge­ret­tet wer­den
wür­den; es wa­ren die Ge­bo­te des Le­bens selbst.
    Es war das, wo­für es vie­le Na­men gab – und ei­ner, der äl­tes­te und ein­fachs­te
war: Gott. Und das hieß: Mensch.
    Die Ko­lon­ne der Flücht­lin­ge hat­te die Ko­lon­ne der Ge­fan­ge­nen jetzt pas­siert. Es
hat­te aus­ge­se­hen, als wä­ren für ei­ni­ge Mi­nu­ten die Flücht­lin­ge die Ge­fan­ge­nen
und die Ge­fan­ge­nen frei. Zwei Lei­ter­wa­gen, mit Schim­meln be­spannt und voll von
Ge­päck, bil­de­ten das En­de des Zu­ges. Die SS rann­te ner­vös an der Ko­lon­ne der
Ge­fan­ge­nen auf und ab, spä­hend nach ir­gend­ei­nem Zei­chen, ei­nem Wort. Nichts
ge­sch­ah.
    Die Ko­lon­ne mar­schier­te schwei­gend wei­ter, und bald fin­gen die Fü­ße wie­der an
zu schar­ren, die Mü­dig­keit kam zu­rück, und Gold­stein muß­te die Ar­me wie­der um
die Schul­tern von Le­wins­ky und Wer­ner le­gen – aber

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