E.M. Remarque
trotzdem, als die schwarzroten
Barrieren des Lagereingangs und die eisernen Tore mit dem alten preußischen
Motto »Jedem das Seine« sichtbar wurden, betrachtete jeder dieses Motto, das
Jahre hindurch ein fürchterlicher Hohn gewesen war, plötzlich mit neuen Augen.
Die Lagerkapelle wartete am Tor. Sie spielte den »Fridericus Rex«-Marsch.
Hinter ihr standen eine Anzahl SS-Leute und der zweite Lagerführer. Die
Gefangenen begannen zu marschieren.
»Beine 'raus! Augen rechts!«
Das Baumfäll-Kommando war noch nicht da. »Stillgestanden! Abzählen!«
Sie zählten ab. Lewinsky und Werner beobachteten den zweiten Lagerführer. Er
wiegte sich in den Knien und schrie: »Leibesvisitation! Erste Gruppe
vortreten!«
Mit vorsichtigen Bewegungen glitten die in Lappen gewickelten Waffenstücke nach
rückwärts in Goldsteins Hände.
Lewinsky fühlte, wie ihm plötzlich der Schweiß am Körper herunterlief.
Der SS-Scharführer Günther Steinbrenner, der wie ein Schäferhund auf der Wacht
stand, hatte irgendwo eine Bewegung gesehen. Er drängte sich mit Faustschlägen
zu Goldstein durch. Werner preßte die Lippen zusammen. Wenn die Sachen jetzt
nicht bei Münzer oder Remme waren, konnte alles aus sein.
Bevor Steinbrenner ankam, fiel Goldstein um. Steinbrenner gab ihm einen Tritt
in die Rippen. »Aufstehen! Schweinehund!«
Goldstein machte einen Versuch. Er kam auf die Knie, erhob sich, stöhnte, hatte
plötzlich Schaum vor dem Mund und stürzte nieder.
Steinbrenner sah das graue Gesicht und die verdrehten Augen.
Er gab Goldstein noch einen Tritt und überlegte, ob er ihm ein brennendes
Streichholz unter die Nase halten sollte, um ihn munter zu machen. Aber dann
fiel ihm ein, daß er vor kurzem einen Toten geohrfeigt und sich vor seinen
Kameraden lächerlich gemacht hatte; ein zweites mal sollte ihm etwas Ähnliches
nicht passieren. Knurrend trat er zurück.
»Was?« fragte der zweite Lagerführer gelangweilt den Kommandoführer. »Das sind
nicht die vom Munitionswerk?«
»Nein. Dies ist nur das Aufräumkommando.«
»Ach so! Wo sind denn die anderen?«
»Kommen gerade den Berg 'rauf«, sagte der SS-Oberscharführer, der das Kommando
geführt hatte.
»Na schön. Dann macht Platz. Diese Kaffern hier brauchen nicht visitiert zu
werden. Schwirrt ab!«
»Erste Gruppe zurück, marsch, marsch!« kommandierte der Oberscharführer.
»Kommando stillgestanden! Links um, marsch!«
Goldstein erhob sich. Er taumelte, aber es gelang ihm, in der Gruppe zu
bleiben.
»Weggeworfen?« fragte Werner fast lautlos, als Goldsteins Kopf neben ihm war.
»Nein.«
Werners Gesicht entspannte sich. »Sicher nicht?«
»Nein.«
Sie marschierten ein. Die SS kümmerte sich nicht mehr um sie. Hinter ihnen
stand die Kolonne vom Munitionswerk. Sie wurde genau untersucht.
»Wer hat es?« fragte Werner. »Remme?«
»Ich.«
Sie marschierten zum Appellplatz und stellten sich auf.
»Was wäre passiert, wenn du nicht mehr hochgekommen wärst?« fragte Lewinsky.
»Wie hätten wir es dann von dir wiedergekriegt, ohne daß jemand es gemerkt
hätte?«
»Ich wäre hochgekommen.«
»Wieso?«
Goldstein lächelte. »Ich wollte früher mal Schauspieler werden.«
»Du hast das geschwindelt?«
»Nicht alles. Das letzte.«
»Den Schaum vor dem Mund auch?«
»Das sind Schultricks.«
»Du hättest es trotzdem weitergeben sollen. Warum nicht? Warum hast du es
behalten?«
»Das habe ich dir schon vorher erklärt.«
»Achtung«, flüsterte Werner. »SS kommt.«
Sie standen stramm.
XI
D er neue Transport kam
nachmittags. Ungefähr fünfzehnhundert Mann schleppten sich den Berg hinauf. Sie
hatten weniger Invaliden bei sich, als zu erwarten war. Wer auf dem langen Weg
liegengeblieben war, war immer gleich
Weitere Kostenlose Bücher