E.M. Remarque
Toten.
Um acht Uhr war die Personalaufnahme derer, die noch stehen konnten, beendet.
Es war dunkel geworden, und der Himmel war voll silberner Schäferwolken. Die
Arbeitskommandos rückten ein. Sie hatten Überstunden gemacht, damit der
Transport vorher erledigt werden konnte. Das Aufräumkommando hatte wieder
Waffen gefunden.
Es war das fünfte Mal, immer an derselben Stelle. Dieses Mal war ein Zettel
dabei gewesen: Wir denken an euch. Sie wußten längst, daß es Arbeiter des
Munitionswerkes waren, die nachts die Waffen für sie verbargen.
»Sieh dir das Durcheinander an«, flüsterte Werner. »Wir kommen durch.«
Lewinsky drückte ein flaches Päckchen gegen seine Rippen.
»Schade, daß wir nicht mehr haben. Länger als zwei Tage haben wir keine Chance
mehr. Dann ist es vorbei mit dem Aufräumen.«
»Einrücken lassen!« kommandierte Weber. »Appell ist später.«
»Verdammt, warum haben wir keine Kanone bei uns?« murmelte Goldstein. »So ein
Schweineglück!«
Sie marschierten zu den Baracken.
»Die Neuen zur Desinfektion!« erklärte Weber. »Wir wollen hier keinen Typhus
und keine Krätze eingeschleppt kriegen. Wo ist der Kammerkapo?«
Der Kapo meldete sich. »Die Sachen dieser Leute müssen desinfiziert und
entlaust werden«, sagte Weber. »Haben wir genug Ausrüstungen zum Wechseln?«
»Zu Befehl, Herr Sturmführer. Vor vier Wochen sind noch zweitausend gekommen.«
»Richtig.« Weber erinnerte sich. Die Kleider waren von Auschwitz hergeschickt
worden. Man hatte in den Vernichtungslagern immer genug Sachen, um sie an andere
Lager abzugeben. »Los, 'rein in den Bottich mit den Kerlen!«
Das Kommando erscholl. »Ausziehen! Zum Baden. Monturen und Wäsche nach hinten,
Privatsachen vor euch legen!«
Ein Schwanken lief durch die dunklen Reihen. Das Kommando konnte wirklich Baden
heißen; ebenso gut aber auch Vergasen. In die Gaskammern der Vernichtungslager
wurde man nackt, unter dem Vorwande, zu baden, geführt. Die Brausen strömten
dann aber kein Wasser aus, sondern das tödliche Gas.
»Was sollen wir machen?« flüsterte der Häftling Sulzbacher seinem Nachbarn
Rosen zu. »Umfallen?«
Sie entkleideten sich. Sie wußten, daß sie, wie so oft, in Sekunden eine
Entscheidung über Leben und Tod treffen mußten. Sie kannten das Lager nicht;
war es ein Vernichtungslager mit Gaskammern, dann war es besser, einen
Zusammenbruch zu markieren. Man hatte dadurch eine kleine Chance, länger zu
leben, weil Bewußtlose gewöhnlich nicht sofort mitgeschleppt wurden. Diese
Chance konnte mit Glück zum Überleben werden; selbst in den Vernichtungslagern
wurden nicht alle getötet. War es jedoch kein Gaskammerlager, dann war
Zusammenbrechen gefährlich; es konnte sein, daß man als nutzlos sofort
abgespritzt wurde.
Rosen blickte zu den Bewußtlosen hinüber. Er bemerkte, daß kein Versuch gemacht
wurde, sie munter zu machen. Daraus schloß er, daß es vielleicht doch nicht zum
Vergasen ginge; sonst hätte man so viele wie möglich mitgenommen. »Nein«,
flüsterte er. »Noch nicht ...«
Die Reihen, die vorher dunkel gewesen waren, schimmerten jetzt in schmutzigem
Weiß. Die Häftlinge standen nackt da; jeder einzelne war ein Mensch; aber das
hatten sie schon fast vergessen.
Der Transport war durch einen großen Bottich mit scharfer Desinfektionslösung
gejagt worden. Auf der Bekleidungskammer wurden jedem ein paar
Bekleidungsstücke zugeworfen. Jetzt standen die Reihen wieder auf dem
Appellplatz.
Sie zogen sich eilig an. Sie waren, soweit man es so nennen konnte, glücklich;
sie waren nicht in einem Vernichtungslager gelandet. Die Sachen, die sie
bekommen hatten, paßten nicht.
Sulzbacher hatte als
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