E.M. Remarque
Armbanduhr
sah. »Noch fünfzehn Sekunden!«
Ein neuer Schuß folgte. Dieses Mal war er nicht in die Luft gegangen. Der Mann,
der das Gesicht in die Hände gelegt hatte, zuckte und schien sich dann zu
strecken und tiefer in die Straße zu sinken. Das Blut bildete eine schwarze
Lache um seinen Kopf – wie einen dunklen Heiligenschein. Der betende Häftling
neben ihm versuchte hochzuspringen.
Er kam aber nur auf ein Knie und rutschte seitlich fort, so daß er auf den
Rücken zu liegen kam. Er hatte die Augen krampfhaft geschlossen und bewegte die
Arme und Beine, als wolle er immer noch fortlaufen und wisse nicht, daß er Luft
trete wie ein strampelnder Säugling in der Wiege. Eine Lachsalve begleitete
seine Anstrengungen.
»Wie willst du den nehmen, Robert?« fragte einer der SS-Leute den Scharführer,
der den ersten erschossen hatte. »Von hinten durch die Brust oder durch die
Nase?«
Robert ging langsam um den Strampelnden herum. Einen Augenblick blieb er
nachdenklich hinter ihm stehen; dann schoß er ihn schräg von der Seite durch
den Kopf. Der Strampler bäumte sich auf, schlug ein paar mal mit den Schuhen
schwer auf die Straße und fiel zurück. Langsam zog er ein Bein etwas an,
streckte es aus, zog es wieder an, streckte es – »Den hast du nicht genau
erwischt, Robert.«
»Doch«, erwiderte Robert gleichgültig, ohne den Kritiker anzusehen. »Das sind
nur noch Nervenreflexe.«
»Schluß!« erklärte Steinbrenner. »Eure Zeit ist abgelaufen! Toresschluß!«
Die Wache begann die Tore tatsächlich langsam zu schließen.
Ein Angstschrei stieg auf. »Nur nicht so drängeln, meine Herrschaften!« rief
Steinbrenner mit leuchtenden Augen. »Einer nach dem anderen, bitte! Da soll
noch jemand sagen, daß wir hier nicht beliebt sind!«
Drei Leute kamen nicht mehr weiter. Sie lagen in Abständen von einigen Metern
auf der Straße. Robert erledigte zwei in Ruhe durch Genickschüsse; der dritte
aber folgte ihm mit dem Kopf. Er saß halb, und wenn Robert hinter ihn trat,
drehte er sich nach ihm um und sah ihn an, als könne er den Schuß so aufhalten.
Robert versuchte es zweimal; jedes Mal brachte der andere es fertig, sich mit
letzter Anstrengung so weit umzudrehen, daß er Robert ansah. Robert zuckte
schließlich die Achseln. »Wie du willst«, sagte er und schoß ihm ins Gesicht.
Er steckte die Waffe weg. »Das macht gerade vierzig.«
»Vierzig, die du erledigt hast?« fragte Steinbrenner, der herangekommen war.
Robert nickte. »Auf diesem Transport.«
»Donnerwetter, du bist aber eine Nummer!« Steinbrenner starrte ihn voll
Bewunderung und Neid an wie jemanden, der einen Rekord im Sport aufgestellt
hat. Robert war nur ein paar Jahre älter als er. »Das nennt man Klasse!«
Ein älterer Oberscharführer kam heran. »Ihr mit eurer Knallerei!« schimpfte er.
»Jetzt wird es wieder neues Theater geben wegen der Papiere für die Erledigten.
Die stellen sich hier ja damit an, als ob wir lauter Prinzen gebracht hätten,
so genau.«
Drei Stunden, nachdem der Transport zur Personalaufnahme angetreten war, waren
sechsunddreißig Leute umgefallen. Vier waren tot. Der Transport hatte seit
morgens kein Wasser gehabt.
Von Block sechs hatten zwei Häftlinge versucht, einen gefüllten Wassereimer
heranzuschmuggeln, als die SS anderswo beschäftigt war. Man hatte sie gefaßt,
und sie hingen jetzt mit verdrehten Gelenken an den Kreuzen neben dem
Krematorium.
Die Personalaufnahme ging weiter. Zwei Stunden später waren sieben tot und über
fünfzig lagen herum. Von sechs Uhr an ging es dann schneller; zwölf waren tot,
und über achtzig lagen auf dem Platz herum. Um sieben Uhr waren es
hundertzwanzig, und es war nicht mehr festzustellen, wie viele tot waren. Die
Bewußtlosen bewegten sich ebenso wenig wie die
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