E.M. Remarque
auch noch ein Tag!«
Lillian stand auf.
»Sind Sie dessen so sicher?«
»Ganz sicher«, erwiderte
die Oberschwester mit deprimierender Fröhlichkeit. »Für Sie liegt ein
Schlafmittel auf Ihrem Nachttisch, Miss Dunkerque. Sie werden ruhen wie in
Morpheus' Armen!«
»Wie in Morpheus'
Armen!« wiederholte Hollmann mit Abscheu, als sie gegangen war. »Das Krokodil
ist die Königin der Klischees. Heute abend war sie noch gnädig. Warum müssen
diese Polizistinnen der Gesundheit jeden Menschen, wenn er in ein Hospital
kommt, mit dieser entsetzlich geduldigen Überlegenheit behandeln, als wäre er
ein Kind oder ein Kretin?«
»Es ist die Rache
für ihren Beruf«, erwiderte Lillian böse. »Wenn Kellner und Krankenschwestern
das nicht hätten, stürben sie an Minderwertigkeitskomplexen.«
Sie standen in der
Halle vor dem Aufzug. »Wohin gehen Sie jetzt?« fragte Lillian Clerfayt.
Er sah sie an. »Zur
Palace Bar.«
»Nehmen Sie mich
mit?«
Er zögerte einen
Augenblick. Er hatte gewisse Erfahrungen mit überspannten Russinnen. Auch mit
Halbrussinnen. Aber dann erinnerte er sich an die Szene mit dem Schlitten und
an das hochmütige Gesicht Wolkows. »Warum nicht?« sagte er.
Sie lächelte ein
hilfloses Lächeln. »Ist es nicht trostlos? Man bittet um ein bißchen Freiheit
wie ein Trunkenbold einen abweisenden Barmixer um ein letztes Glas. Ist das
nicht erbärmlich?«
Clerfayt schüttelte
den Kopf. »Ich habe das oft genug selbst getan.«
Sie sah ihn zum
ersten Male voll an. »Sie?« fragte sie. »Warum Sie?«
»Jeder hat Gründe.
Sogar ein Stein. Wo soll ich Sie abholen? Oder wollen Sie gleich mitkommen?«
»Nein. Sie müssen
durch den Haupteingang hinausgehen. Das Krokodil paßt dort auf. Gehen Sie dann
die erste Serpentine herunter, nehmen Sie dort einen Schlitten, und fahren Sie
rechts hinter das Sanatorium zum Eingang für Lieferanten und Dienstboten. Ich
komme da heraus.«
»Gut.«
Lillian stieg in
den Aufzug. Hollmann wandte sich zu Clerfayt. »Es macht dir doch nichts, daß
ich heute abend nicht mitkomme?«
»Natürlich nicht.
Ich fahre ja morgen noch nicht weg.«
Hollmann blickte
ihn forschend an. »Und Lillian? Wärst du lieber alleingeblieben?«
»Auf keinen Fall.
Wer will schon alleinbleiben?«
Clerfayt ging durch
die leere Halle hinaus. Nur ein kleines Licht brannte noch neben der Tür. Durch
die großen Fenster fiel das Mondlicht in breiten Rhomben auf den Fußboden.
Neben der Tür stand das Krokodil.
»Gute Nacht«, sagte
Clerfayt.
»Good night«,
erwiderte sie, und er konnte sich nicht vorstellen, warum sie auf einmal
Englisch sprach.
Er
ging die
Serpentinen hinunter, bis er einen Schlitten fand. »Können Sie das Verdeck
schließen?« fragte er den Kutscher.
»Heute nacht? Es
ist doch nicht mehr so kalt!« Clerfayt wollte Lillian nicht in einen offenen
Schlitten setzen, aber er hatte auch keine Lust zu Argumenten. »Für Sie nicht,
für mich schon. Ich komme aus Afrika«, erwiderte er. »Können Sie also den
Schlitten schließen?«
»Das ist was
anderes.« Der Kutscher kletterte umständlich von seinem Bock und klappte das
Verdeck hoch. »Geht es so?«
»Ja. Fahren Sie
jetzt bitte zum Sanatorium Bella Vista zurück – zum Hintereingang.«
Lillian Dunkerque
wartete bereits. Sie hatte einen dünnen, schwarzen Pelz aus Breitschwanz um
sich gezogen. Clerfayt hätte sich nicht gewundert, wenn sie in einem Abendkleid
ohne Mantel gekommen wäre.
»Es hat alles
geklappt«, flüsterte sie. »Ich habe Josefs Schlüssel. Er bekommt eine Flasche
Kirsch dafür.«
Clerfayt half ihr
in den Schlitten. »Wo ist Ihr Wagen?« fragte sie.
»Er wird
gewaschen.«
Sie lehnte sich in
das Dunkel des Verdecks zurück, als der Schlitten wendete und am Haupteingang
des Sanatoriums
Weitere Kostenlose Bücher