E.M. Remarque
Menschen,
in dem die eingeschlossenen Säfte langsam begannen, es zu zerstören –,
nein, in diesem Kasten lauerte nur noch das absolute Nichts, der Schatten ohne
Schatten, das unbegreifliche Nichts mit dem ewigen Hunger nach dem anderen
Nichts, das in allem Leben wohnte und wuchs, das mit einem geboren wurde und
das auch in ihr, Lillian Dunkerque, war und schweigend wuchs und Tag um Tag
ihres Lebens fraß, bis nur es allein noch da sein würde, und man seine Hülle
ebenso wie diese hier in eine schwarze Kiste packen würde zu Abfall und
Zerfall.
Sie griff hinter
sich nach der Türklinke. Im Augenblick, als sie sie berührte, drehte sich die
Klinke scharf in ihrer Hand. Sie unterdrückte einen Schrei. Die Tür öffnete
sich. Vor Lillian stand ein überraschter Hausknecht und starrte sie an. »Was
ist los?« stotterte er. »Wo kommen Sie her?« Er blickte an ihr vorbei ins
Zimmer, in dem die Vorhänge im Zugwind flatterten. »Es war doch abgeschlossen!
Wie sind Sie hereingekommen? Wo ist der Schlüssel?«
»Es war nicht
abgeschlossen.«
»Dann muß
jemand –« Der Hausknecht sah auf die Tür. »Da steckt er ja!« Er wischte
sich über das Gesicht. »Wissen Sie, einen Moment dachte ich ...«
»Was?«
Er deutet auf den
Sarg. »Ich dachte, Sie wären es und ...«
»Ich bin es ja«,
flüsterte Lillian.
»Was?«
»Nichts.«
Der Mann trat einen
Schritt in das Zimmer. »Sie verstehen mich nicht. Ich dachte, Sie wären die
Tote. So was! Dabei habe ich doch schon allerhand mitgemacht!« Er lachte. »Das
nennt man einen Schreck in der Nachtstunde! Was machen sie denn hier! Nummer
achtzehn ist doch schon zugeschraubt.«
»Wer?«
»Nummer achtzehn.
Ich weiß den Namen nicht. Ist ja auch nicht nötig. Wenn's soweit ist, nützt der
schönste Name nichts mehr.« Der Hausknecht drehte das Licht ab und schloß die
Tür. »Freuen Sie sich, daß Sie es nicht sind, Fräulein«, sagte er gutmütig.
Lillian kramte Geld
aus ihrer Tasche hervor. »Hier ist etwas für den Schreck, den ich Ihnen bereitet
habe.« Der Hausknecht salutierte und rieb sich die Bartstoppeln. »Herzlichen
Dank! Ich werde es mit meinem Kollegen Josef teilen. Nach einem so traurigen
Geschäft schmeckt ein Bier mit Korn immer besonders gut. Nehmen Sie es sich
nicht zu sehr zu Herzen, Fräulein. Einmal müssen wir alle dran glauben.«
»Ja«, erwiderte
Lillian. »Das ist ein Trost. Ein wirklich wunderbarer Trost ist das, nicht
wahr?«
Sie stand in ihrem
Zimmer. Die Zentralheizung summte. Alle Lichter brannten. Ich bin verrückt,
dachte sie. Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst vor mir selbst. Was
soll ich tun? Ich kann ein Schlafmittel nehmen und das Licht brennen lassen.
Ich kann Boris anrufen und mit ihm sprechen. Sie hob die Hand nach dem Telefon,
aber sie nahm den Hörer nicht ab. Sie wußte, was er ihr sagen würde. Sie wußte
auch, daß er recht haben würde; aber was nützte es, wenn man wußte, daß man
recht hatte? Der Mensch hatte sein bißchen Vernunft, um zu erkennen, daß er
nach ihr allein nicht leben konnte. Man lebte von Gefühlen – und bei denen
half Recht nicht.
Sie hockte sich in
einen Sessel am Fenster. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, dachte sie, ebenso
alt wie Agnes. Vier Jahre bin ich hier oben. Davor war fast sechs Jahre lang
Krieg. Was kenne ich vom Leben? Zerstörung, die Flucht aus Belgien, Tränen,
Angst, den Tod meiner Eltern, Hunger, und dann die Krankheit durch den Hunger
und die Flucht. Davor war ich ein Kind. Ich erinnere mich kaum noch daran, wie
Städte im Frieden nachts einmal ausgesehen haben müssen. Die tausend Lichter
und die strahlende Welt der Straßen – was weiß ich noch davon? Ich kenne
nur noch Verdunkelungen und den Bombenregen aus dem lichtlosen Dunkel, und dann
Okkupationen und Furcht und Verstecken und Kälte. Glück? Wie war dieses endlose
Wort, das einst in Träumen so geglänzt hatte,
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