E.M. Remarque
zusammengeschrumpft! Ein Zimmer
ohne Heizung war bereits Glück gewesen, ein Brot, ein Keller, ein Platz, der
nicht beschossen wurde. Dann war das Sanatorium gekommen. Sie starrte aus dem
Fenster. Unten stand ein Schlitten neben dem Eingang für Lieferanten und
Dienstboten. Vielleicht war es schon der Schlitten für Agnes Somerville. Vor
einem Jahr war sie lachend mit Pelzen und Blumen am Haupteingang des
Sanatoriums angekommen; jetzt verließ sie das Haus heimlich durch den Dienstboteneingang,
als hätte sie ihre Rechnung nicht bezahlt. Vor sechs Wochen hatte sie mit
Lillian noch Pläne gemacht für die Abreise. Die Abreise, das Phantom, die Fata
Morgana, die nie kam.
Das Telefon
klingelte. Sie zögerte, dann hob sie es ab. »Ja, Boris.« Sie lauschte. »Ja,
Boris. Ja, ich bin vernünftig – ja, ich weiß, daß viel mehr Menschen an
Herzschlag und Krebs sterben – ich habe die Statistiken gelesen, Boris,
ja – ich weiß, daß es uns nur so scheint, weil wir hier oben so eng zusammen
hausen – ja, viele werden geheilt, ja, ja – die neuen Mittel, ja,
Boris, ich bin vernünftig, bestimmt – nein, komm nicht – ja, ich
liebe dich, Boris, natürlich ...«
Sie legte den Hörer
auf. »Vernünftig«, flüsterte sie und starrte in den Spiegel, aus dem ihr
Gesicht zurückstarrte, fremd, mit fremden Augen – »vernünftig!« Mein Gott,
dachte sie, ich bin viel zu lange vernünftig gewesen! Wozu? Um Nummer zwanzig
oder dreißig in Zimmer sieben neben dem Gepäckaufzug zu werden? Etwas in einem
schwarzen Kasten, vor dem einem graute?
Sie sah auf die
Uhr. Es war kurz vor neun. Die Nacht lag dunkel und endlos vor ihr, voll mit
Panik und Langeweile, dieser entsetzlichen Mischung, die das Kennzeichen der
Sanatorien war – der Panik vor der Krankheit und der Langeweile des
reglementierten Daseins, die zusammen unerträglich wurden, weil der Kontrast zu
nichts anderem führte als zu einem intensiven Gefühl völliger Hilflosigkeit.
Lillian stand auf.
Nur jetzt nicht alleinbleiben! Es mußten noch ein paar Leute unten sein –
Hollmann zumindest und sein Besuch.
Im Speisezimmer saßen
außer Hollman und Clerfayt noch drei Südamerikaner, zwei Männer und eine
ziemlich dicke, kleine Frau. Alle drei waren schwarzgekleidet; alle drei
schwiegen. Sie hockten wie kleine, schwarze Hügel in der Mitte des Raumes unter
der hellen Lampe.
»Sie kommen aus
Bogotá«, sagte Hollmann. »Man hat ihnen telegrafiert. Die Tochter des Mannes
mit der Hornbrille lag im Sterben. Aber seit sie hier sind, geht es dem Mädchen
plötzlich besser. Jetzt wissen sie nicht, was sie tun sollen –
zurückfliegen oder hier bleiben.«
»Warum bleibt die
Mutter nicht hier, und die andern fliegen zurück?«
»Die dicke Frau ist
nicht die Mutter. Sie ist die Stiefmutter; sie hat das Geld, von dem Manuela
hier lebt. Keiner will eigentlich hier bleiben; auch nicht der Vater. Sie
hatten drüben Manuela fast vergessen. Sie schickten regelmäßig den Scheck und
lebten in Bogotá, und Manuela lebte hier – seit fünf Jahren – und
schrieb monatlich einen Brief. Der Vater und die Stiefmutter haben längst
Kinder, die Manuela nicht kennt. Alles war gut – bis sie so lästig wurde
zu sterben. Da mußte man natürlich kommen, der Reputation wegen. Die Frau
wollte den Mann nicht allein fliegen lassen. Sie ist älter als er und
eifersüchtig, und sie weiß, daß sie zu dick ist. Zur Verstärkung nahm sie
deshalb ihren Bruder mit. Man hatte in Bogotá ohnehin schon darüber geredet,
daß sie Manuela aus dem Hause gedrängt habe; jetzt will sie zeigen, daß sie sie
liebt. Es ist also nicht nur eine Sache der Eifersucht, sondern auch eine des
Prestiges. Wenn sie allein zurückflöge, würde das Gerede wieder beginnen. So
sitzen sie da und warten.«
»Und
Weitere Kostenlose Bücher