E.M. Remarque
vorbeifuhr. »Haben Sie den Wagen heute abend Hollmanns wegen
nicht heraufgebracht?« fragte sie nach einer Weile.
Er sah sie an.
»Warum Hollmanns wegen?«
»Damit er ihn nicht
sieht. Um ihn zu schonen.«
Es stimmte.
Clerfayt hatte gemerkt, daß der Anblick Giuseppes Hollmann zu sehr aufgeregt
hatte. »Nein«, erwiderte er. »Der Wagen mußte nur dringend gewaschen werden.«
Er holte ein
Päckchen Zigaretten heraus. »Geben Sie mir auch eine«, sagte Lillian.
»Dürfen Sie
rauchen?«
»Natürlich«,
erwiderte sie so schroff, daß er sofort spürte, es sei nicht wahr.
»Ich habe nur
Gauloises. Schwarzen, schweren Tabak der Fremdenlegion.«
»Ich kenne sie. Wir
haben sie während der Okkupation geraucht.«
»In Paris?«
»In einem Keller in
Paris.«
Er gab ihr Feuer.
»Woher sind Sie heute gekommen?« fragte sie. »Aus Monte Carlo?«
»Nein, aus Vienne.«
»Vienne? In
Österreich?«
»Vienne bei Lyon.
Sie kennen es sicher nicht. Es ist ein verschlafenes Städtchen, dessen einziger
Ruhm darin besteht, eines der besten Restaurants Frankreichs zu besitzen –
das Hotel de la Pyramide.«
»Sind Sie über
Paris gekommen?«
»Das wäre ein zu
großer Umweg gewesen. Paris liegt viel weiter im Norden.«
»Wie sind Sie
gefahren?«
Clerfayt wunderte
sich, warum sie das so genau wissen wollte. »Die übliche Route«, sagte er.
»Über Belfort und Basel. Ich hatte noch etwas in Basel zu tun.«
Lillian schwieg
eine Weile. »Wie war es?« fragte sie dann.
»Was? Die Fahrt?
Langweilig. Grauer Himmel und flaches Land, bis man an die Alpen kommt.«
Er hörte sie im
Dunkeln atmen. Dann sah er im vorübergleitenden Licht eines Ladens mit Uhren
ihr Gesicht. Es hatte einen merkwürdigen Ausdruck von Erstaunen, Spott und
Schmerz. »Langweilig?« sagte sie. »Flaches Land? Mein Gott, was ich darum geben
würde, einmal keine Berge mehr sehen zu müssen.«
Er begriff plötzlich,
warum sie ihn so eingehend gefragt hatte. Für die Kranken hier oben waren die
Berge Mauern, die ihre Freiheit beschränkten. Sie gaben ihnen den leichten Atem
und die Hoffnung; aber sie konnten sie nicht verlassen. Ihre Welt war auf
dieses Hochtal beschränkt, und deshalb war jede Nachricht von unten eine
Nachricht aus dem verlorenen Paradies.
»Wie lange sind Sie
schon hier?« fragte er.
»Vier Jahre.«
»Und wann können
Sie wieder hinunter?«
»Fragen Sie den
Dalai Lama«, erwiderte Lillian bitter. »Er verspricht es alle paar
Monate – so wie bankrotte Regierungen einen Vierjahresplan nach dem
anderen versprechen.«
Der Schlitten hielt
an der Einfahrt zur Hauptstraße. Eine Gruppe Touristen in Skianzügen zog
lärmend an ihm vorbei. Eine sehr blonde Frau in einem blauen Pullover legte
ihre Arme um den Hals des Pferdes. Das Pferd schnaubte. »Come, Daisy, darling«,
rief einer der Touristen. Lillian warf heftig ihre Zigarette in den Schnee.
»Die Leute da zahlen eine Menge Geld, um hier heraufzukommen – und wir
würden alles geben, um wieder hinunterzukommen – ist das nicht zum
Totlachen?«
»Nein«, erwiderte
Clerfayt ruhig.
Der Schlitten zog
wieder an. »Geben Sie mir noch eine Zigarette«, sagte Lillian.
Clerfayt hielt ihr
das Paket hin. »Sie verstehen das alles sicher nicht«, murmelte sie. »Daß man
sich hier wie in einem Gefangenenlager fühlen kann. Nicht wie in einem
Gefängnis; da weiß man wenigstens, wann man herauskommt. Wie in einem Lager, wo
es kein Urteil gibt.«
»Ich verstehe es«,
sagte Clerfayt. »Ich war selbst in einem.«
»Sie? In einem
Sanatorium?«
»In einem
Gefangenenlager. Im Kriege. Aber bei uns war es gerade umgekehrt. Wir waren im
flachen Moor eingesperrt, und die Schweizer Berge waren für uns der Traum der
Freiheit. Wir konnten sie vom Lager
Weitere Kostenlose Bücher