E.M. Remarque
noch gerne leben?« fragte sie sehr leise und plötzlich voll Hass.
Clerfayt antwortete
nicht gleich. Die harte, metallische, verzweifelte Stimme der Frau, die ihn
angerufen hatte, war noch in seinen Ohren: Was soll ich machen? Ferrer hat
nichts hinterlassen! Kein Geld? Kommen Sie! Helfen Sie mir! Ich sitze fest! Sie
sind schuld! Ihr alle seid schuld! Ihr mit euren verfluchten Rennen!
Er schüttelte es
ab. »Es kommt darauf an«, sagte er zu Lillian.
»Dieser Mann war sinnlos in eine Frau verliebt, die ihn mit jedem Mechaniker
betrog. Und er war ein begeisterter Rennfahrer, der aber nie über den
Durchschnitt hinausgekommen wäre. Alles, was er vom Leben wollte, waren Siege
in großen Rennen und die Frau. Er starb, bevor er über beides die Wahrheit
herausfand – und er starb auch, ohne zu wissen, daß die Frau ihn nicht
mehr sehen wollte, weil er amputiert war. Das meine ich mit Glück.«
»Vielleicht hätte
er trotzdem noch gerne gelebt!«
»Das weiß ich nicht«,
erwiderte Clerfayt, plötzlich irritiert. »Aber ich habe Menschen elender
sterben sehen. Sie nicht auch?«
»Ja«, sagte Lillian
hartnäckig. »Aber alle hätten gern noch gelebt.«
Clerfayt schwieg.
Was rede ich da nur? dachte er. Und wozu? Aber rede ich nicht, um mich selbst
von etwas zu überzeugen, was ich nicht glaube? Diese harte, kalte, metallische
Stimme von Ferrers Freundin am Telefon!
»Niemand entkommt«,
sagte er schließlich ungeduldig. »Und niemand weiß, wann und wie es ihn trifft.
Wer kann da schachern um Zeit? Was ist denn ein langes Leben? Eine lange
Vergangenheit. Und die Zukunft reicht immer nur bis zum nächsten Atemzug. Oder
bis zum nächsten Rennen. Darüber hinaus weiß man nichts.« Er hob sein Glas.
»Wollen wir darauf trinken?«
»Worauf?«
»Auf nichts. Auf
ein bißchen Courage vielleicht.«
»Ich bin der
Courage müde«, sagte Lillian. »Und des Trostes auch. Erzählen Sie mir lieber,
wie es unten aussieht. Auf der anderen Seite der Berge.«
»Trostlos. Nichts
als Regen. Seit Wochen.«
Sie stellte ihr
Glas langsam auf den Tisch zurück.
»Regen!« Sie sagte
es, als sagte sie: Leben. »Hier hat es seit Oktober nicht mehr geregnet. Nur
geschneit. Ich habe schon fast vergessen, wie Regen aussieht ...«
Es
schneite,
als sie herauskamen. Clerfayt pfiff einen Kutscher heran.
Sie fuhren die
Serpentinen hinauf. Die Glocken des Pferdegeschirrs läuteten. Die Straße war
still in der wirbelnden Dunkelheit. Nach einer Weile hörten sie vom Berg her
ein zweites Geschirr läuten. Der Kutscher hielt an einer Ausweichstelle neben einer
Laterne, um dem anderen, der von oben kam, Platz zu machen. Das Pferd stampfte
und prustete. Der zweite Schlitten glitt im Schneegestöber fast lautlos an
ihnen vorüber. Es war ein niedriger Transportschlitten, auf dem eine lange
Kiste stand, die in schwarzes Wachstuch gehüllt war. Man sah neben der Kiste
eine Zeltbahn, unter der Blumen hervorlugten, und eine zweite, die über einen
Stapel Kränze geworfen war.
Der Kutscher
bekreuzigte sich und trieb das Pferd wieder an. Schweigend fuhren sie die
letzten Kurven hinauf und hielten vor dem Seiteneingang des Sanatoriums. Eine
elektrische Birne unter einem Porzellanschirm warf einen Kreis gelben Lichtes
auf den Schnee. Darin lagen ein paar abgerissene grüne Blätter. Lillian stieg
aus. »Es hilft alles nichts«, sagte sie mit einem mühsamen Lächeln. »Man kann
es eine Weile vergessen – aber man kann ihm nicht entgehen.«
Sie öffnete die
Tür. »Danke«, murmelte sie. »Und verzeihen Sie – ich war keine gute
Gesellschaft. Aber ich konnte nicht allein sein heute abend.«
»Ich auch nicht.«
»Sie? Warum Sie
nicht?«
»Aus demselben
Grund wie Sie. Ich habe es Ihnen erzählt. Das Telefon aus Monte Carlo.«
»Aber Sie sagten
doch, das sei ein
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