E.M. Remarque
aus sehen. Einer von uns, der aus dieser
Gegend hier kam, machte uns fast verrückt mit seinen Erzählungen. Hätte man uns
damals die Entlassung angeboten, wenn wir uns dafür verpflichtet hätten, einige
Jahre in diesen Bergen zu leben, ich glaube, viele hätten das angenommen. Auch
zum Totlachen, wie?«
»Nein. Hätten Sie
es auch angenommen?«
»Ich hatte einen
Plan zu fliehen.«
»Wer hätte den
nicht? Sind Sie geflohen?«
»Ja.«
Lillian beugte sich
vor. »Sind Sie entkommen? Oder wieder gefangen worden?«
»Entkommen. Ich wäre
sonst nicht hier. Es gab nichts dazwischen.«
»Und der andere
Mann?« fragte sie nach einer Weile.
»Der, der immer von
den Bergen hier erzählte?«
»Er starb an Typhus
im Lager. Eine Woche bevor es befreit wurde.«
Der Schlitten hielt
vor dem Hotel. Clerfayt sah, daß Lillian keine Überschuhe trug. Er hob sie
heraus, trug sie über den Schnee und setzte sie vor dem Eingang nieder. »Ein
Paar Seidenschuhe gerettet«, sagte er.
»Wollen Sie
wirklich in die Bar?«
»Ja. Ich brauche
etwas zu trinken.«
In der Bar stampften
Skiläufer in schweren Schuhen auf der Tanzfläche herum. Der Kellner schob einen
Tisch in einer Ecke zurecht. »Wodka?« fragte er Clerfayt.
»Nein. Etwas
Heißes. Glühwein oder Grog.« Clerfayt sah Lillian an. »Was von beiden?«
»Wodka. Haben Sie
den nicht vorher auch getrunken?«
»Ja. Aber vor dem
Essen. Einigen wir uns auf etwas, was die Franzosen den lieben Gott in
Samthosen nennen. Einen Bordeaux.«
Er sah, daß sie ihn
mißtrauisch musterte. Wahrscheinlich glaubte sie, er wolle sie als Kranke
behandeln und sie schonen. »Ich beschwindele Sie nicht«, sagte er. »Ich würde
den Wein auch bestellen, wenn ich jetzt allein hier wäre. Wodka können wir
morgen vor dem Essen trinken, soviel Sie wollen. Wir werden eine Flasche ins
Sanatorium schmuggeln.«
»Gut. Dann lassen
Sie uns den Wein trinken, den Sie gestern abend unten in Frankreich gehabt
haben – im Hotel de la Pyramide in Vienne.«
Clerfayt war
überrascht, daß sie die Namen behalten hatte. Man muß achtgeben bei ihr, dachte
er; wer sich Namen so gut merkt, merkt sich auch anderes. »Es war ein
Bordeaux«, sagte er, »ein Lafite Rothschild.« Es war nicht wahr. Er hatte in
Vienne einen leichten Wein der Region getrunken, der nicht ausgeführt wurde;
aber es war unnötig, das zu erklären. »Bringen Sie uns einen Château Lafite
1937, wenn Sie ihn haben«, sagte er dem Kellner. »Und wärmen Sie ihn nicht mit
einer heißen Serviette an. Bringen Sie ihn lieber so, wie er im Keller liegt.«
»Wir haben ihn
chambré, mein Herr.«
»Welch ein Glück!«
Der Kellner ging
zur Bar und kam zurück. »Sie werden am Telefon verlangt, Herr Clerfayt.«
»Von wem?«
»Das weiß ich
nicht, mein Herr. Soll ich fragen?«
»Das Sanatorium!«
sagte Lillian nervös. »Das Krokodil!«
»Das werden wir
gleich herausfinden.« Clerfayt stand auf. »Wo ist die Kabine?«
»Draußen, rechts
neben der Tür zur Bar.«
»Bringen Sie
inzwischen den Wein. Machen Sie die Flasche auf, und lassen Sie ihn atmen.«
»War es das
Krokodil?« fragte Lillian, als er zurückkam.
»Nein. Es war ein
Anruf aus Monte Carlo.« Clerfayt zögerte einen Moment, aber als er ihr Gesicht
aufleuchten sah, dachte er, es könne ihr nicht schaden zu hören, daß auch
anderswo Menschen stürben. »Aus dem Hospital in Monte Carlo«, sagte er. »Ein
Bekannter von mir ist gestorben.«
»Müssen Sie
zurück?«
»Nein. Es ist da
nichts weiter zu tun. Ich glaube sogar, daß es ein Glück für ihn war.«
»Ein Glück?«
»Ja. Er ist beim
Rennen gestürzt und wäre ein Krüppel geblieben.«
Lillian starrte ihn
an. Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Was redete dieser gesunde
Eindringling da für barbarischen Unsinn? »Denken Sie nicht, daß auch Krüppel
manchmal
Weitere Kostenlose Bücher