E.M. Remarque
nie
enttäuscht. Die letzte der kleineren Weisheiten!«
»Für heute abend
die letzte«, erwiderte Lillian und stand auf. »Die schönsten Weisheiten sterben
über Nacht. Wieviel Leichen immer am nächsten Morgen zusammengefegt werden! Und
sonderbar, was man alles redet, wenn die Sonne untergegangen ist. Ich muß jetzt
gehen.«
»Das sagen Sie
immer; aber Sie kommen wieder.«
Sie sah ihn dankbar
an. »Nicht wahr? Merkwürdig, daß nur Dichter das wissen.«
»Sie wissen es auch
nicht; sie hoffen es nur.«
Sie wanderte den
Quai des Grands-Augustins entlang bis zum Quai Voltaire und dann zurück durch
die kleinen Gassen hinter den Quais. Sie hatte wenig Angst, nachts allein zu
gehen; sie hatte keine Angst vor Menschen.
In der Rue de Seine
sah sie jemand auf dem Boden liegen. Sie glaubte, es sei eine Betrunkene und
ging vorbei; aber etwas in der Haltung der Frau, die ausgespreizt halb auf dem
Fahrweg, halb auf dem Fußsteig lag, zwang sie, umzukehren. Sie wollte sie
wenigstens ganz auf das Trottoir ziehen, damit sie vor Autos geschützt war.
Die Frau war tot.
Die Augen waren offen und starrten im halben Licht der Laterne Lillian an. Der
Kopf fiel, als sie die Schultern hob, mit dumpfem Laut zurück gegen das
Pflaster. Lillian stieß einen unterdrückten Ruf aus; sie glaubte im ersten
Augenblick, der Toten weh getan zu haben. Sie blickte in das Gesicht; es war
endlos leer. Ratlos sah sie sich um; sie wußte nicht, was sie tun sollte. Ein
paar Fenster waren hell, und hinter einem größeren, das verhängt war, hörte sie
Musik. Zwischen den Häusern stand der Himmel sehr hoch und ohne Sterne. Jemand
rief irgendwoher. Lillian sah einen Mann herankommen. Sie zögerte einen Moment;
dann ging sie ihm rasch entgegen. »Gérard!« sagte sie erstaunt und erleichtert.
»Woher wußten Sie ...«
»Ich bin Ihnen
nachgegangen. Es ist das Recht der Poeten an Frühlingsabenden ...«
Lillian schüttelte
den Kopf. »Dort liegt eine tote Frau! Kommen Sie!«
»Sie wird betrunken
sein. Bewusstlos.«
»Nein, sie ist tot.
Ich weiß, wie man aussieht, wenn man tot ist.« Sie spürte, wie Gérard
widerstrebte.
»Was ist?«
»Ich will damit
nichts zu tun haben«, sagte der Dichter des Todes.
»Wir können sie
nicht liegenlassen.«
»Warum nicht? Sie
ist tot. Was jetzt kommt, geht nur noch die Polizei an. Ich will nicht darin
verwickelt werden. Sie sollten es auch nicht! Man wird annehmen, wir hätten sie
ermordet. Kommen Sie!«
Er zog Lillian am
Arm. Sie blieb stehen. Sie blickte in das Gesicht, das nichts mehr wußte und
alles wußte, was sie nicht wußte. Die Tote sah entsetzlich verlassen aus. Ein
Bein hatte sie angezogen unter dem karierten Rock. Man sah die Strümpfe, die
braunen Schuhe, die halbgeöffneten Hände, das kurze, dunkle Haar und eine dünne
Kette um den Hals.
»Kommen Sie!«
flüsterte Gérard. »Hier gibt es nur noch Schwierigkeiten! Es ist kein Spaß, mit
der Polizei zu tun zu haben! Wir können von irgendwoher telefonieren. Das ist
alles, was wir zu tun haben.«
Sie ließ sich
wegziehen. Gérard ging so eilig, daß sie kaum nachkommen konnte. Als sie die
Quais erreicht hatten, sah sie, daß er sehr blaß war. »Es ist etwas anderes,
ihm gegenüberzustehen als darüber zu reden, wie?« sagte sie mit bitterem Spott.
»Wo können wir telefonieren? In meinem Hotel?«
»Da wird uns der
Nachtportier überhören.«
»Ich kann ihn
wegschicken, etwas zu holen.«
»Gut.«
Der Portier kam
strahlend. »Er liegt jetzt an zehnter Stelle, aber er wird ...«
Er sah Gérard und
verstummte vorwurfsvoll. »Ein Freund von Clerfayt«, sagte Lillian. »Sie haben
recht, man muß das jetzt feiern. Holen Sie eine Flasche Wein. Wo ist das
Telefon hier?«
Der Portier zeigte
auf seinen Tisch und verschwand.
»Jetzt«, sagte
Lillian.
Gérard suchte
bereits im Telefonbuch. »Das
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