E.M. Remarque
keine
Höchstgeschwindigkeiten!«
»Ja, Hollmann. Es
geht Ihnen gut?«
»Sehr gut. Viel
besser, Lillian. Welche Station hören Sie? Nehmen Sie Rom; Rom ist jetzt näher
am Rennen als Mailand.«
»Ich habe Rom. Ich
freue mich, daß es Ihnen besser geht.«
»Und Sie, Lillian?«
»Sehr gut.
Und ...«
»Es ist vielleicht
richtig, daß Sie nicht in Brescia sind, es stürmt und regnet da – obschon,
ich hätte es nicht ausgehalten, ich hätte dabeigestanden. Wie geht es Ihnen,
Lillian?«
Sie wußte, was er
meinte. »Gut«, sagte sie. »Wie ist alles oben?«
»So wie immer. In
den paar Monaten hat sich wenig geändert.«
In den paar
Monaten, dachte sie. Waren es nicht Jahre?
»Und wie geht
es –« sie zögerte, aber sie wußte plötzlich, daß sie nur deswegen
angerufen hatte, »– wie geht es Boris?«
»Wem?«
»Boris.«
»Boris Wolkow? Man
sieht ihn wenig. Er kommt nicht mehr ins Sanatorium. Ich glaube, es geht ihm
gut.«
»Haben Sie ihn
irgendwann gesehen?«
»Ja, natürlich. Es
ist allerdings schon zwei, drei Wochen her. Er ging mit seinem Hund spazieren,
dem Schäferhund, den Sie ja kennen. Wir haben nicht miteinander gesprochen. Wie
ist es da unten? So, wie Sie es sich gedacht haben?«
»Ungefähr so«,
sagte Lillian. »Es kommt wohl immer darauf an, was man daraus macht. Liegt noch
Schnee oben?«
Hollmann lachte.
»Der ist weg. Die Wiesen sind am Blühen. Lillian –«, er machte eine Pause,
»– ich werde in ein paar Wochen hier herauskommen. Es ist kein Schwindel.
Der Dalai Lama hat es mir gesagt.«
Lillian glaubte es
nicht. Man hatte es ihr vor Jahren auch gesagt. »Das ist wunderbar«, sagte sie.
»Dann sehen wir uns hier wieder. Soll ich es Clerfayt sagen?«
»Lieber noch nicht;
ich bin darin abergläubisch. Da – jetzt kommen die neuen Nachrichten! Sie
müssen sie ja auch hören! Auf Wiedersehn, Lillian!«
»Auf Wiedersehen,
Hollmann.«
Sie hatte etwas
über Boris hinzusetzen wollen; aber sie tat es nicht. Sie blickte den schwarzen
Hörer eine Weile an; dann legte sie ihn behutsam auf die Gabel und überließ
sich ihren Gedanken, ohne ihnen zu folgen, bis sie merkte, daß sie weinte. Wie
töricht ich bin! dachte sie und stand auf. Man muß für alles bezahlen. Glaubte
ich denn, ich hätte es schon getan?
»Das
Wort
Glück hat in unserer Zeit eine übermäßige Bedeutung angenommen«, sagte der
Vicomte de Peystre. »Es hat Jahrhunderte gegeben, in denen es unbekannt war. Es
gehörte nicht zum Leben. Lesen Sie die chinesische Literatur der besten
Epochen, die indische, die griechische. Statt Emotion, in der das Wort Glück
seine Wurzel hat, suchte man ein gleich bleibendes, hohes Lebensgefühl. Da, wo
das verloren geht, beginnen die Krisen, die Verwechslungen mit der Emotion, die
Romantik und der törichte Ersatz mit dem Suchen nach Glück.«
»Ist das andere
nicht auch Ersatz?« fragte Lillian.
»Ein
menschenwürdigerer«, erwiderte Peystre.
»Ist eines ohne das
andere unmöglich?«
Er sah sie
nachdenklich an. »Beinahe immer. Bei Ihnen, glaube ich, nicht. Das fasziniert
mich. Sie haben beides. Es muß einen Zustand so reiner Verzweiflung
voraussetzen, daß Namen dafür und auch für die Verzweiflung schon gleichgültig
sind. Es ist jenseits von Anarchie – auf dem Polarplateau einer Einsamkeit
ohne jede Trauer. Trauer und Rebellion haben sich bei Ihnen, glaube ich, längst
gegenseitig vernichtet. Kleine Dinge haben deshalb denselben Wert wie große.
Das Detail beginnt zu glänzen.«
»Das achtzehnte
Jahrhundert steigt auf«, sagte Lillian mit halbem Spott. »Sind Sie nicht sein
letzter Abkomme?«
»Sein letzter
Verehrer.«
»Hat man je mehr
von Glück geredet als damals?«
»Nur in den
schlechten Perioden. Und auch dann hat man zwar davon geredet und geschwärmt,
aber
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