E.M. Remarque
sind abergläubisch.«
Lillian saß eine
Weile in der kleinen, dunklen Halle. »Wenn er so weiterfährt, ist er morgen
früh wieder in Brescia«, sagte der Nachtportier.
»Das auch«,
erwiderte Lillian und stand auf. »Ich gehe noch einen Kaffee trinken am
Boulevard Michel.«
Sie wurde dort
bereits als Stammgast behandelt. Der Kellner wachte über sie, Gérard wartete
auf sie, und eine Runde von Studenten hatten sich als eine Art von Ehrengarde
für sie gebildet.
Gérard hatte die
gute Eigenschaft, immer hungrig zu sein; das gab ihr Zeit nachzudenken, während
er aß. Sie liebte es, auf die Straße zu schauen, wo das Leben mit heißen und
trostlosen Augen vorübertrieb. Es war schwer, an eine unsterbliche Seele für
jeden einzelnen zu glauben, wenn man diesen endlosen Strom sah. Wohin wanderten
die Seelen später? Zerfielen sie wie die Körper? Oder geisterten sie noch umher
in diesen Abenden der Wünsche, der Lust und der Verzweiflung, verwesend, voll
von lautloser Angst und Beschwörung, bleiben zu können, was sie waren und nicht
zu Seelendünger für andere zu werden, die gerade jetzt hinter den Tausenden von
Fenstern achtlos gezeugt wurden?
Gérard hatte
endlich aufgehört zu essen. Das letzte war ein ausgezeichneter Pont-l'Évêque-Käse gewesen. »Wie der
rohe Vorgang der Nahrungsaufnahme von gebratenen Stücken von Tierleichen und
halbverwesten Milchprodukten die poetischen Qualitäten der Seele zu Hymnen
anregt!« erklärte er. »Immer wieder verwunderlich und tröstlich!«
Lillian lachte.
»Von Brescia nach Brescia«, sagte sie. »Ich verstehe diesen klaren und
einfachen Satz nicht; aber er scheint mir ziemlich unangreifbar.« Gérard trank
seinen Kaffee herunter. »Er ist sogar tief. Von Brescia nach Brescia! Ich werde
meinen nächsten Band Gedichte so nennen. Sie sind schweigsam heute nacht.«
»Nicht schweigsam.
Nur ohne Worte.«
»Von Brescia bis
Brescia?«
»Ungefähr so.«
Gérard nickte und
roch an seinem Kognak. »Es ist ein Satz, der immer besser wird. Er führt zu
einer Fülle von Platitüden, die alle einmal tief wie Bergwerksschächte waren
und es vielleicht noch sind.«
»Ich weiß noch
einen dazu«, sagte Lillian: »Alles ist dasselbe.«
Gérard setzte sein
Glas nieder. »Mit oder ohne Phantasie?«
»Mit aller
Phantasie.«
Er nickte
erleichtert. »Ich hatte einen Augenblick Angst, daß Sie deprimiert seien und
eine Waschküchendummheit auskramen wollten.«
»Ganz das
Gegenteil – eine äußerst beglückende Erkenntnis.«
»Die Einzelheiten
sind dasselbe wie das Ganze; aber das Ganze ist mehr. Diese Weinflasche ist
ebenso hinreißend wie ein Raffael; in jener pickligen Studentin dort geistert
zweifellos auch ein Stück Medea und Aspasia – das Leben ohne Perspektive:
alles ist gleich wichtig und unwichtig; alles ist Vordergrund; alles Gott.
Meinen Sie das?« fragte Gérard.
Lillian lächelte.
»Wie schnell Sie sind!«
»Zu schnell.«
Gérard zog eine bittere Grimasse. »Zu schnell, um es zu erleben.« Er nahm einen
großen Schluck Kognak. »Wenn Sie das wirklich erlebt haben«, dozierte er, »dann
bleiben Ihnen nur drei Dinge ...«
»So viele?«
»In ein
buddhistisches Kloster zu gehen, verrückt zu werden oder zu sterben, am
passendsten durch eigene Hand. Die Selbstauslöschung ist, wie Sie wissen, eines
der drei Dinge, die wir den Tieren voraushaben.«
Lillian fragte
nicht nach den beiden anderen. »Es gibt noch ein viertes«, sagte sie. »Unser
Unglück ist, zu glauben, daß wir einen Anspruch auf das Leben haben. Wir haben
keinen. Wenn man das erkennt, wirklich erkennt, wird viel bitterer Honig
plötzlich süß.«
Gérard salutierte
schweigend, beide Hände hochgestreckt. »Wer nichts erwartet, wird
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